1884, Briefe 479–567
512. An Malwida von Meysenbug in Rom
<Venedig, Mitte Mai 1884>
Meine verehrte Freundin,
Dank, von ganzem Herzen, für diesen Brief, aus dem mir eine lichte und gütige Seele entgegenstrahlte —: ich lachte, als ich ihn gelesen hatte und fühlte mich freier.
Ein einziges Wort als Commentar. Sie nennen mich „ungerecht“ in Bezug auf meine Schwester, wie Sie mich, vor zwei Jahren, „ungerecht“ in Bezug auf Richard Wagner genannt haben. In beiden Fällen kennen Sie nur — ich muß sagen, glücklicherweise — nur die Hälfte des Thatbestandes — und ich bin ferne ferne davon, den Rest, die andere Hälfte vor Ihren Augen auszubreiten. Glauben Sie mir aber dies: wenn es überhaupt auf Erden Menschen mit dem tiefsten und unbezwinglichsten Bedürfniß nach Gerechtigkeit giebt, so gehöre ich zu ihnen. Sonderlich, wenn man mich beleidigt hat. Mein Leben enthält sogar mehrere Absurditäten in Folge einer Neigung, mich als erhaben über die Möglichkeit beleidigt zu werden zu bewahren. Vielleicht hat mich eben Ihr Brief vor einer solchen Absurdität bewahrt — —
Unter allen Umständen empfinde ich eine Beleidigung, die Ihnen angethan wird, hundert Mal stärker als eine, die mich allein betrifft.
Nun noch eine komische Differenz zwischen uns. Nämlich: was mir an Rée und später wiederum an Frl. S<alomé> interessant, ja höchst anziehend war, Das ist ganz allein ihre „greuliche Denkweise“. Es sind im Grunde bisher die zwei einzigen Personnages gewesen, welche ich frei fand von dem, was ich, in Bezug auf das gute alte Europa, die „moralische Tartüfferie“ zu nennen pflege. Sie glauben nicht, wie viel ich im Verkehr mit solchen Naturen zu lernen verstehe — und wie ich sie entbehre. Ich nannte Frl. S<alomé> einstmals in Tautenburg mein „anatomisches Praeparat“ — und mein Grimm gegen meine Schwester wird etwas von dem Grimm des Prof. Schiff an sich haben, dem man seinen Lieblings-Hund gestohlen hat. Sehen Sie doch, meine verehrte Freundin, auch ich bin ein arger, arger vivisector — —
Von Herzen
Ihr
Nietzsche.