1884, Briefe 479–567
531. An Resa von Schirnbofer in Graz
(2. Sept. 1884) Sils-Maria, Oberengadin
Sehr geehrtes Fräulein
inzwischen gieng es nicht gut. Ah, diese dumme Gesundheit! Außerdem ist es kalt hier oben, blau-finger-kalt, um mich kurz verständlich zu machen; ich wälze das Problem eines Ofens in meinem Kopfe.
Von Nizza bin ich jetzt durch 2 Quarantänen, jede zu 7 Tagen, fern gehalten — was mich etwas nach Norden zu oscilliren macht. Ich möchte wissen, ob man auf die Dresdener Aufführung des „Löwen von Venedig“ rechnen dürfte — in diesem Falle wäre ich sehr versucht und verlockt —. Zuletzt wünscht meine Schwester, „wichtiger“ Dinge halber, ein Zusammentreffen.
Inzwischen kam Heinrich von Stein zu Besuch, nicht länger und nicht kürzer als Sie selber, und sehr erquicklich. Was mir Das gut that! — endlich ein Mensch mit einer heroischen Grundstimmung, und in der Umgebung R. W<agner>’s schön zur Ehrfurcht erzogen, ganz anders als jetzt erzogen wird (nämlich zum Mitreden und Mitschwätzen über Jedes vor Jedem) Er hat mir Aussichten gemacht, für die Zeit, wo sein Vater nicht mehr lebt — zu mir nach Nizza überzusiedeln. —
Eben nahm Frl. von Mansuroff Abschied — oh wie einsam ist es schon geworden! —
Lesen Sie, ich bitte, Stifter’s „Nachsommer“. —
(„Der Kampf um Gott“ Roman von H. Lou (Stuttgart, Auerbach), seit Mai im Druck.)
In summa: ich bin mit dem Sommer zufrieden, insofern ich für 6 Jahre den Entwurf gemacht habe, den Entwurf meiner „Philosophie“ oder „Religion“ oder was weiß ich? Genug, es muß noch gelebt werden. —
Aber die dumme Gesundheit! — —
Nehmen Sie nochmals meinen herzlichsten Dank für Ihren Besuch und bleiben Sie gut-freundschaftlich gesinnt.
Ihrem ergebensten
Nietzsche.