1884, Briefe 479–567
530. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Sils-Maria, 2. September 1884>Donnerstag.
Meine liebe Mutter,
Deine Gabe, die ich als Geburtstagsgeschenk empfangen habe, hat mich wahrhaft gerührt, und ich möchte gern im Stande sein, auch Deinem Wunsche zu entsprechen und nach Naumburg zu kommen. Was die Gegengründe betrifft, so wirst Du durch meinen letzten Brief hinreichend unterrichtet sein. Es versteht sich, daß für einen außerordentlichen Fall (z. B. wenn es vielleicht sich absehn ließe, daß ein Zusammensein zu Dreien das Letzte für eine längere Zeit sein dürfte — ein Fall, der mir öfters vorschwebt und auf den sich, wie ich gemeint habe, der Wunsch meiner Schwester zu einer Zusammenkunft bezieht) — es versteht sich, daß für einen solchen Fall ich die Rücksichten der Gesundheit (und noch mehr die des Geldes) hintenan setzen würde. Auch würde es mir selber wohlthun, einigermaßen mein Programm für die nächsten 5 Jahre auszusprechen das sich ziemlich bestimmt gestaltet hat, Dank der grossen Aufgabe, in deren Dienste ich lebe. Vielleicht würde gerade durch dies Letzte allem dem Mißverständlichen und Entfremdenden, an welchem die vergangenen Jahre so reich waren, am besten in Hinsicht auf die Zukunft vorgebeugt.
Zum Mindesten würde ich klar machen, weshalb man einem so Tief-beschäftigten und ebenso Tief-Verborgenen Menschen, wie ich bin, mit der größten und schonendsten Vorsicht begegnen müsse (nach der Regel, daß man einen Nachtwandler nicht anreden darf —)
— Im Übrigen steht Alles gut, und ich habe, trotz der größten Schwierigkeiten, bis zu diesem Zeitpunkte (dem 40ten Lebensjahre) Alles noch von mir erreicht, was ich erreichen wollte. —
Schreibe mir, bitte, umgehend, und erwäge, ob im andern Fall vielleicht nächstes Jahr um dieselbe Zeit ein solches Zusammensein zu Dreien in’s Auge zu fassen wäre.
Es hat mich sehr gefreut, daß Du an die kleine Adrienne gedacht hast. Meine Leute hier sind ausgezeichnet, und nachgerade wird der „Einsiedler von Sils-Maria“ von allen Seiten sehr achtungsvoll behandelt. Mehrere der Sommergäste der hiesigen Hôtels haben mir Abschiedsbesuche gemacht.
Honig excellent! Handschuh sehr erwünscht! —
Wirklich, ich fürchte mich jetzt vor langen Reisen, Du kannst nicht glauben, was ich dies Jahr schon an den Folgen der Eisenbahn- und Postfahrten gelitten habe. Sils und Nizza, Nizza und Sils — und dazwischen eine Frühjahrs-Station: so wird es gehen. — Mit den herzlichsten Wünschen für uns 3
Dein Sohn F.
Ich bin traurig über die Abreise meiner vortrefflichen Tischnachbarin Frl. von Mansuroff, dame d’honneur der russichen Kaiserin (einer veritablen Schülerin Chopins) und langweile mich seitdem. Besuch verabredet.
Dr. von Stein hat mit der höchsten Verehrung vom Charakter des Dr. Rée und von seiner Liebe für mich geredet — was mir sehr wohlgethan hat. —
Das Neueste ist: „der Kampf um Gott“, Roman von H. Lou.