1884, Briefe 479–567
545. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Zürich Pension Neptun den 17 Oct. 1884
Meine liebe gute Mutter
Deine Briefe und Deine Geschenke — Alles hat mir besonders wohl gethan: so daß ich dies Mal mit viel besserer Gesundheit in das neue Lebensjahr hinübergesegelt bin als all die letzten Jahre hindurch. Der ganze Züricher Aufenthalt ist bisher wohl gerathen, und mein Herabsteigen aus dem Engadin ohne alle üblen Folgen geblieben. Das ausgezeichnet helle Wetter kam mir zu Hülfe, vor allem aber die herzliche und aufrichtige Art unsres geschwisterlichen Zusammenseins. Ich denke, daß nun für die Zukunft zwischen mir und meiner Schwester der Himmel wieder hell gemacht ist. — Im Übrigen empfinden wir, Du und ich, in Bezug auf die Entscheidung des nächsten Jahres ganz gleich, so daß ich eigentlich Nichts dazu Dir zu sagen habe. Höchstens das, was Du aber auch schon als ausgemachte Wahrheit wissen wirst: jeder von uns Dreien hat für das, was er am liebsten möchte und thäte, zwar den besten Willen, aber zu wenig — Geld.
Deine Trauben sind viel schöner als die Züricher, die ich hier zu Tisch bekomme; und was den Honig angeht, so wird auch zukünftig eine Sendung davon zu den angenehmsten Weisen gehören, mich an die Heimat zu erinnern. Ein wenig Honig dieser Qualität nach Tisch scheint mir sogar gut zu thun, während ich gern schon lange auf die gewöhnlichen „Honigtöpfe“ der Schweiz verzichtet habe.
Donnerstag Mittag war das Kästchen in meinen Händen. —
Hemd und Strümpfe — alles höchst erwünscht und nöthig!
Bis Ende des Monates bin ich noch hier, dann wieder Nizza oder Umgebung von Nizza. Es gehört zu den wesentlichsten Errungenschaften des letzten Jahrs für mich, zu wissen welche Gegend Europa’s ganz eigentlich meine Gegend ist. Ich bin davon überzeugt und habe eben die Probe abgelegt, insofern ich der mehrfachen Versuchung, diesen Winter nach Rom zu gehn, widerstanden habe.
Mit dem allerherzlichsten
Danke
Dein
F.