1884, Briefe 479–567
555. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Adresse: Mentone (France) <14./15. November 1884>Pension des Etrangers.
Meine Lieben
angelangt in Mentone und ungefähr über die Nachwirkungen der unerträglich-aufregenden Reise hinweg — will sagen: über einen dreitägigen ganz bösen Anfall. (Es gab zu viel: 4 Mal Billetwechseln, 3 Mal Umsteigen, 2 Mal Dogana peinlichster Art; und dieses steife Sitzen in übervollen Coupés ist für meinen Rücken eine unbeschreibliche Quälerei — ich verschwor wieder alles Reisen!!) Ich habe hier ein hübsches Arbeits-Zimmerchen, ähnlich wie in Zürich, mit voller Sonne. Aber das Haus ist fast leer, und die Ernährung einstweilen erbärmlich (kleine aufgewärmte Bissen von Fleisch, es bekommt mir gar nicht gut)
Wird es nicht besser, so gehe ich doch wieder nach Nizza, wo man mir genügend zu essen giebt, und alles hübsch mager gebraten, — während hier würtembergisch gekocht wird. —
Pardon! daß ich vom Essen rede. Sonst, landschaftlich, ist Mentone mir viel zuthunlicher als Nizza — stiller, großartiger, alles Gebirge und Grün mehr zur Hand, so daß man nicht erst wie in Nizza einen Anlauf von 40 Minuten zu machen hat, um in’s Freie zu kommen.
Aber die Fremden fehlen noch. Man baut eben in aller Gemächlichkeit den Musik-Pavillon. Was die Einwirkung von Meer und Himmel betrifft: so ist mir zu Muthe, als sei ich seit dem Verlassen von Nizza im Frühling immer krank gewesen, die Züricher Wochen abgerechnet, wo Himmel und „Mensch“ sich verschworen hatten, mir’s wohl sein zu lassen.
Ich bin hier so viel geduldiger und warte der Dinge, die da „kommen“ sollen (aus mir nämlich!)
Ich bin Lorentz noch 16 Mark schuldig, aber er kann noch warten. Schmeitzner soll und muß mich verkaufen, ich will aus dieser „Sackgasse“ heraus.
Euch herzlich zugethan
Euer F.