1884, Briefe 479–567
536. An Heinrich Köselitz in Annaberg
<Sils-Maria, 20. September 1884>
Eine Bitte an Sie, lieber Freund! — und machen Sie ein freundliches Gesicht dazu!
Ich habe meine Verbindung mit Kapellmeister Hegar in Zürich wieder angeknüpft und möchte gerne ihn zu einer Concert-Aufführung von „Scherz List und Rache“ überreden. Nun haben Sie freilich allen Grund, an meiner Überredungs-Kunst zu zweifeln — ich selber zweifle vielleicht noch mehr daran. Aber zuletzt handelt es sich um einen Versuch: erreiche ich Nichts, so haben wir wieder Das gelernt, was wir schon wußten — sonst aber wäre damit nichts verdorben, sondern alles „beim Alten“. —
Meine Adresse ist hierzu, vom 25. September an
Zürich, Pension Neptun
(ich bitte die Partitur „einschreiben“ zu lassen)
Wenn Sie zufällig den Klavier-Auszug von „Nacht, du holde“ besitzen (oder jemand Ihrer Angehörigen), bitte legen Sie ihn bei — ich sende ihn pünktlich wieder zurück, wenn ich Zürich verlasse.
Für den Winter bleibt es bei Nizza.
Über B<althasar> Grazian empfinde ich wie Sie: Europa hat nichts Feineres und Complicirteres (in der Moralisterei!) hervorgebracht. Gegen meinen „Zarathustra“ macht er immerhin den Eindruck von Rococo und sublimer Verschnörkelung — oder was denken Sie darüber?
— Der Besuch v. Stein’s hat Nachwirkungen, er scheint tief ergriffen sich nach allen Seiten hin darüber ausgesprochen zu haben. Die Erziehung in der Nähe Dühring’s und Wagner’s hat zum Mindesten ihn feinfühlig in Bezug auf das verborgene Pathos eines Einsam-Daherziehenden gemacht: mir selber war in seiner Nähe zu Muthe, wie jenem Philoktet auf seinem Eilande beim Besuch des Neoptolemos — ich meine, er hat auch Etwas von meinem Philoktet-Glauben errathen „ohne meinen Bogen wird kein Ilion erobert!“ —
Übrigens hat sich mir die Aufgabe des nächsten Jahrzehends wundervoll auseinander gelegt — obwohl ich schaudere und staune, wenn ich nach den Kräften frage, die einer solchen Aufgabe genügen könnten. Man muß abwarten und „die Schürze aufhalten“ wenn der Baum von irgend einem Winde geschüttelt wird — mehr weiß ich nicht.
Gestern rechnete ich aus, daß die entscheidenden Höhepunkte meines „Denkens und Dichtens“ („Geburt der Tragödie“ und Zarathustra) mit dem Maximum der magnetischen Sonnen-Einwirkung zusammenfallen, umgekehrt mein Entschluß zur Philologie (und Schopenhauer) (eine Art Selbst-Irrewerden) und insgleichen Menschliches Allzumenschliches (zugleich schlimmste Crisis meiner Gesundheit) mit einem Minimum. — Sehen Sie, wie der Einsiedler von Sils-Maria zum Astrologen wird?
Allerherzlichste Wünsche!
Ihr N.