1884, Briefe 479–567
516. An Malwida von Meysenbug in Rom
Venezia, <erste Juniwoche 1884>San Canciano calle nuova 5256
Meine hochverehrte Freundin,
Verzeihung, wenn ich in Bezug auf Herrn A<ragon> noch ziemlich viel Mißtrauen habe. Ohne Ihre Fürsprache und rein nach dem mitgeschickten Briefe zu urtheilen, würde ich sogar geneigt sein, auf ein ungewöhnliches Maaß von Unbescheidenheit und Grünschnäbelei zu rathen.
Ganz allgemein geredet — so ist es jetzt äußerst schwer geworden, mir zu helfen; ich halte es immer mehr für unwahrscheinlich, Menschen zu begegnen, die dies vermöchten. Fast in allen Fällen, wo ich mir bisher einmal dergleichen Hoffnungen machte, ergab es sich, daß ich es war, der helfen und zugreifen mußte —: dazu aber fehlt es mir nunmehr an Zeit. Meine Aufgabe ist ungeheuer; meine Entschlossenheit aber nicht geringer. Was ich will, das wird Ihnen mein Sohn Zarathustra zwar nicht sagen, aber zu rathen aufgeben; vielleicht ist es zu errathen. Und gewiß ist Dies: ich will die Menschheit zu Entschlüssen drängen, welche über die ganze menschliche Zukunft entscheiden, und es kann so kommen, daß einmal ganze Jahrtausende auf meinen Namen ihre höchsten Gelübde thun. — Unter einem „Jünger“ würde ich einen Menschen verstehn, der mir ein unbedingtes Gelübde machte —, und dazu bedürfte es einer langen Probezeit und schwerer Proben. Im Übrigen vertrage ich die Einsamkeit: während jeder Versuch der letzten Jahre, es wieder unter Menschen auszuhalten, mich krank gemacht hat. —
Mit Zeitungen, selbst den wohlgemeintesten, kann und darf ich mich nicht einlassen: — ein Attentat auf das gesammte moderne Preßwesen liegt in dem Bereiche meiner zukünftigen Aufgaben. —
Es thut mir immer leid, Nein sagen zu müssen, und ganz besonders zu Ihnen, meine hochverehrte Freundin! Denn zuletzt sind wir Beide zum Ja-sagen geschaffen, nicht wahr? —
Mit den dankbarsten Gefühlen immer Ihr
Nietzsche.