1884, Briefe 479–567
524. An Franz Overbeck in Basel
<Sils-Maria, Anfang August 1884>
Lieber Freund, gestern Abend kam Dein Brief, und ich nahm, Dank demselben, mit mehr Vergnügen als sonst, meine einsame Mahlzeit ein. Die Nacht hatte ich wenig Ruhe, im Zimmer nebenan starb Jemand, man gieng immer hin und her, Arzt, Pfarrer usw. Heute regnet es, wie schon gestern, meine Finger sind steif, ich werde gerade noch fertig bringen, zu schreiben, daß ich gerne 200 frcs. von der Handwerker-Bank hätte, zur Beruhigung. Ob ich im September südlich-westlich reisen kann, hängt von der Cholera und der (7 tägigen!) Quarantäne ab; diese Krankheit hat mich schon gezwungen, über Zürich nach dem Engadin zu reisen, statt, wie es viel näher war, über Lugano. —
An „Peter Gast“ habe ich ungefähr vor einer Woche geschrieben, seine Venetianische Musik geht mir tröstlich durch den Kopf, und ich betrachte es als eine harte Entsagung, nicht bei der Aufführung seiner Oper Zeuge und Taufgevatter zu sein.
Das Clima ist rauh, und die sonderbare Erschöpfung, an der ich laborire (Du glaubst nicht, wie langsam ich meines Weges gehen muß —) hat an dieser scharfen Kälte und Herbheit ein Heilmittel — mindestens hoffe ich das.
Beim Durchlesen meiner „Litteratur,“ die ich jetzt wieder einmal beisammen sehe, fand ich mit Vergnügen, daß ich noch alle starken Willens-Impulse, die in ihr zu Worte kommen, in mir habe und daß auch in dieser Hinsicht kein Grund zu Entmuthigung da ist. Übrigens habe ich so gelebt, wie ich es mir selber (namentlich in „Schopenhauer als Erzieher“); vorgezeichnet habe. Falls Du den Zarath<ustra> mit in Deine Mußezeit nehmen solltest, nimm, der Vergleichung halber, doch die eben genannte Schrift mit hinzu (ihr Fehler ist, daß eigentlich in ihr nicht von Schopenhauer, sondern fast nur von mir die Rede ist — aber das wußte ich selber nicht, als ich sie machte.)
Eben kommen, schön verpackt, die Bücher an.
Dir und Deiner lieben Frau das Beste wünschend
Dein N.