1884, Briefe 479–567
488. An Franz Overbeck in Basel
<Nizza, 12. Februar 1884>
Mein lieber Freund,
unbesorgt! Es geht und soll gehn! Die Wahrheit ist, daß eine Verwandlung mit mir vorgeht, und freilich giebt es Augenblicke dabei, wo ich nicht weiß, wie ich den nächsten Augenblick aushalten soll. Aber ich habe alle Taschen voll Erfahrungen und selbsterdachter Recepte. Ob sich wohl jemals ein Mensch so allein gefühlt hat? Ob ich nicht schließlich stumm werde? Zum Mindesten bin ich alle Tage ein Paar Mal auf dem Punkte, Napoleon zuzustimmen, welcher gesagt hat: „es giebt Dinge, die man nicht schreibt.“ Die Gesundheit ist inzwischen immer besser geworden, seit Neujahr erst drei Anfälle. Ich meine, das, was ich gethan habe, ist zugleich für meinen Leib eine Erlösung und Erquickung. Die Spannung der letzten 10 Jahre war zu groß: dies hatte seine physischen Consequenzen. — Ah, man soll nur seine Aufgabe hübsch durchführen, man fährt dabei am besten. Nun habe ich zum ersten Male meinen Hauptgedanken in eine Form gebracht — und siehe da, wahrscheinlich habe ich mich selber dabei erst „in eine Form gebracht.“ —
Übrigens brauche ich nachgerade einen Menschen, der etwas meinen Verkehr mit den lieben Mitmenschen wie ein Ceremonien-Meister überwacht: daß ich wenigstens nicht mehr den ärgsten Brutalitäten und Ungeschicktheiten der bêtise humaine ausgesetzt bin. Was man sich gegen mich an Anmaaßung und Zudringlichkeit in den letzten Jahren bis hin auf die letzten Tage erlaubt hat — geht über alle Vorstellung und Geduld hinaus. Ich muß mich noch ganz anders in meine Einsamkeit einwickeln. Namentlich aber muß ich verlernen, Briefe zu schreiben, in denen ich mich leidend zeige. Der Leidende ist die wohlfeile Beute für Jedermann; in Bezug auf einen Leidenden ist Jeder weise. — (Ganz objektiv betrachtet: wie viel Vergnügen schafft der Leidende denen, die es gerade nicht sind!) —
Mit Vallombrosa viel Verkehr, Übersenden von Bildern, meteorologischen Tabellen u.s.w. Das Problem ist noch nicht gelöst. —
Herzlichsten Dank für das übersandte Geld! Ich lachte dabei, als es ankam: denn ich hätte schon noch etwas warten können! Aber meine allgemeinen „Beängstigungen“ äußern sich mitunter in solchen ganz speziellen Beängstigungen z.B. ob ich noch Geld genug habe für Übermorgen, oder Streichhölzer u.s.w. u.s.w.
Übrigens fand ich noch Niemand, der mich auf einer Fußreise begleiten will. Allein reisen — ist für mich Myops nachgerade eine Thierquälerei. So bleibe ich denn wohl noch Etwas hier: obschon das Licht jetzt schon zu intensiv für mich geworden ist.
Wäre ich doch nicht so arm! Zum Mindesten möchte ich einen Sklaven haben, wie auch noch der ärmste griechische Philosoph ihn hatte. Ich bin zu blind für sehr viele Dinge. Dir und Deiner lieben Frau von ganzem Herzen zugethan
N.