1884, Briefe 479–567
562. An Heinrich von Stein in Berlin
<Mentone, Ende November 1884>
Einsiedlers Sehnsucht.
Oh Lebens Mittag! Feierliche Zeit!
Oh Sommer-Garten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit:
Wo bleibt ihr Freunde? Kommt! S’ ist Zeit! S’ ist Zeit!
Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt:
Wer wohnt den Sternen
So nahe, wer des Lichtes Abgrunds-Fernen?
Mein Reich — hier oben hab ich’s mir entdeckt —
Und all dies Mein — ward’s nicht für euch entdeckt?
Nun liebt und lockt euch selbst des Gletschers Grau
Mit jungen Rosen,
Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stoßen
Sich Wind und Wolke höher heut’ in’s Blau
Nach euch zu spähn aus fernster Vogelschau - - -
Da seid ihr Freunde! — Weh, doch ich bin’s nicht,
Zu dem ihr wolltet?
Ihr zögert, staunt — ach, daß ihr lieber grolltet!
Ich bin’s nicht mehr? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht?
Und was ich bin, — euch Freunden bin ich’s — nicht?
Ein Andrer ward ich und mir selber fremd?
Mir selbst entsprungen?
Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen,
Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt,
Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt? —
Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht,
Ich lernte wohnen,
Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,
Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet,
Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht.
Ein schlimmer Jäger ward ich: seht wie steil
Gespannt mein Bogen!
Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen —
Doch wehe nun! Ein Kind kann jetzt den Pfeil
Drauf legen: fort von hier! Zu eurem Heil! —
Ihr alten Freunde! Seht nun blickt ihr bleich,
Voll Lieb’ und Grausen!
Nein, geht! Zürnt nicht! Hier — könntet ihr nicht hausen!
Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich —
Da muß man Jäger sein und gemsengleich.
Ihr wendet euch? — — Oh Herz, du trugst genung!
Stark blieb dein Hoffen!
Halt neuen Freunden deine Thüre offen,
Die alten laß! Laß die Erinnerung!
Warst einst du jung, jetzt — bist du besser jung!
Nicht Freunde mehr — das sind, wie nenn’ ich’s doch?
Nur Freund-Gespenster!
Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster,
Das sieht mich an und spricht „wir warens doch?“
— Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch!
Und was uns knüpfte, junger Wünsche Band, —
Wer liest die Zeichen,
Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen?
Dem Pergament vergleich ich’s, das die Hand
Zu fassen scheut — ihm gleich verbräunt, verbrannt! —
Oh Jugend-Sehnen, das sich mißverstand!
Die ich ersehnte,
Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte —
Daß alt sie wurden, hat sie weggebannt:
Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt!
Oh Lebens Mittag! Zweite Jugend-Zeit!
Oh Sommer-Garten!
Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten!
Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit: —
Der neuen Freunde! Kommt! S’ ist Zeit! S’ ist Zeit!
— — — — Dies ist für Sie, mein werther Freund, zur Erinnerung an Sils-Maria und zum Danke für Ihren Brief, einen solchen Brief!
F. N.
(Nizza, pension de Genève, petite rue St. Etienne.)