1884, Briefe 479–567
484. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Nizza, 1. Februar 1884>
Mein alter treuer Freund, — denn daß ich so lange schwieg, das hat Sie mir gewiß nicht untreu gemacht. Es gab nichts Gutes zu melden, und ich habe vom vorigen Winter her die Erinnerung und Scham, wie viel Schlimmes ich damals zu Papier gebracht habe, zu Ihrem Leidwesen — es war selber eine Krankheit in der Krankheit, meine damalige Briefschreiberei. — Wissen Sie eigentlich, daß ich im vorigen Winter einen Typhus durchgemacht habe?
Diesen Winter, bis zu Neujahr, gieng es nun wieder zum Verzweifeln; und auch meine Gesundheit war vom Schlimmsten, so wie einmal in Basel. Zu alledem maltraitirte mich meine Schwester nach wie vor mit Briefen, welche ich unter den Begriff „Antisemitismus“ fassen will — Sie errathen, welchen engeren Inhalt sie hatten. Nun, ich bin wieder einmal über alle „Berge“. —
Inzwischen ist mein Verlangen nach Ihrer Musik so groß geworden, daß ich unversehens wohl einmal in Venedig erscheinen werde. Es ist ein Verlangen wie nach schwerer Krankheit: ich glaube, Sie finden in der ganzen Welt keine Ohren, die so auf Sie hören möchten, lieber Freund! —
Zudem: ich möchte auch ein Fest zu Zweien mit Ihnen feiern, und habe guten Grund dazu — denn ich bin im Hafen! Mein „Zarathustra“ ist seit vierzehn Tagen fertig, ganz fertig — —
Wissen Sie vielleicht eine stille deutsche Pension, wo man etwa zu 5 frcs. al giorno leben kann (das Frühstück abgerechnet, welches ich mir selber besorge; auch ohne Wein: denn ich bin kein Weintrinker)
Dieses Jahr, oh lieber Freund, — mag es Ihnen und mir gedeihen!
Von Herzen
Ihr Nietzsche.
Ich weiß, Freund, was Sie zu thun haben: fürchten Sie nicht, daß ich in Bezug auf Ihre Zeit unbescheiden bin. — —
Dieser Januar war der schönste, den ich erlebte: auch dem Wetter nach.
Nice <France>
Pension de Genève, petite rue St. Etienne.