1869, Briefe 1–633
633. An Paul Deussen in Minden
<Naumburg, 11. April 1869>
Lieber Freund,
nehmen wir’s denn nicht zu tragisch: es scheint ja kein Grund vorhanden zu sein. Aber der alte Euripides hat doch bei Dir mitunter Recht: „die Feder schreibt und das Deussenherz weiß nichts davon.“ Diese kleine heillose Feder hat nämlich eine Neigung zur Phrase und die Eitelkeit, von jenem Herzen mehr erzählen zu wollen als sie weiß und verantworten kann. Es ist offenbar eine Gänsefeder; ich würde sie stark verschneiden oder sie ganz wegwerfen und mich an eine andre gewöhnen. Sapienti sat.
Es ist spät Nachts, und morgen mit dem Morgengrauen geht es fort. Die Welt muthet mich fremdartig an, jene Welt, in die ich trete. Versuchen wir’s, wir beide, jeder an seinem Orte, jeder in seiner Weise zu athmen und uns an eine zeitweilig drückende Athmosphaere zu gewöhnen.
Beiläufig: Basel ist für Dich nicht unerreichbar, besonders für einen solchen Fußsoldaten, wie Du bist, der von Oberdreis nach Minden — horresco referens — wandelt, gleich als ob die Eisenbahnen noch nicht erfunden wären.
Das Buch, das Du letzthin mitzuschicken so freundlich warst, habe ich aufgenommen, wie es gegeben war, als ein Erinnerungszeichen an lange und schöne Tage, an Zeiten gemeinsamer Entwicklung, an die auch ich gern und dankbar zurückdenke. Wir werden’s ja auch noch zusammen aushalten, falls Du mich nämlich nicht zu oft durch solche impromptus, wie es das letzte war, erschreckst und irre machst.
Und so beginne Deinen Beruf, mit der Treue und Sorgfalt, die ich an Dir aus Deiner Schulzeit kenne, mit dem Hinblick auf ein Ideal, mit der Sehnsucht nach einer Verwirklichung desselben. Schließlich thun wir alle eins und wollen auch hoffentlich etwas Ähnliches. Ich wüßte keinen Grund muthlos zu sein. Man erträgt ja das Leben: was bedeutet dagegen ein Amt, eine Pflicht! Wird’s zu toll, nun dann nützt das alte Hausmittel: „man setzt sich auf den Zuschauerplatz und sieht die allerschönste Komödie.“ „Nicht nur zu handeln, anzuschauen sind wir da“ um einen schönen Sophoklesvers schlecht zu parodieren.
Adieu theurer Freund
Wie ehedem und immer
Dein alter Kamerad
Dr Friedrich Nietzsche
Prof. in Basel
dies ist
die Adresse.