1869, Briefe 1–633
28. An Erwin Rohde in Florenz
<Basel,> am 3ten Sept. 1869.
Mein lieber Freund,
es ist ein böses Ding mit Briefen: man möchte vom Besten geben, und man giebt schließlich das ganz Ephemere, den Akkord und nicht die ewige Melodie. Immer wenn ich mich zum Briefschreiben an Dich niedersetze fällt mir das Wort Hölderlin’s (meines Lieblings aus der Gymnasialzeit) ein „denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten!“ Und was hast Du nun, wenn ich mich recht erinnre, in meinen letzten Briefen bekommen? Negationen, Verdrießlichkeiten, Einsamkeiten, Einzelheiten. Und, weiß es Zeus und der herbstlich reine Himmel, so kräftig trägt’s mich gerade in dieser Zeit in’s Positive, so manche üppige Stunde mit reicher Einsicht und wirklicher Veranschaulichung geht an mir vorbei — aber immer wenn solche Zeiten und schwellende Stimmungen kommen, werfe ich einen ganzen Brief mit guten Gedanken und Wünschen für Dich in den blauen Himmel, in der Hoffnung, daß der elektrische Draht zwischen unsern Seelen (oder, nach Reichenbach die odische Lohe) diese Schnellschrift zu Dir befördert.
Wenn Du nicht gar zu entfernt wärest, würde ich mir das Vergnügen machen, Dir ein längeres Aktenstück zu „vermitteln“, meine Antrittsrede, die bereits, im Manuscript, auf Wanderung gewesen ist und zuerst Romundt besucht hat: der sie mit rührender Wärme aufgenommen hat. Dann war sie bei Vater Ritschl: von dem ich das Lob eines guten Stilisten davongetragen habe: zuletzt bei Freund Wagner, der sie Frau von Bülow vorgelesen hat: er stimmt, was mich sehr stärkt, mit allen vorgetragnen aesthetischen Ansichten überein, und gratuliert mir, das Problem richtig gestellt zu haben, was ja aller Weisheit Anfang und vielleicht Ende sei und woran meistens gar nicht gedacht werde. Nun soll die Abhandlung noch zu dem mir und Dir so verehrlichen Wenkel, vielleicht auch zu Dr. Deussen: aber die rechte Weihe, die σφρηγὶς hat sie erst, wenn Du Deinen Segen darüber gesprochen hast. Nichts ist angenehmer als ein solches Bekanntwerden im Manuscript: man wählt sich ein ernsthaftes denkendes Publikum und läuft nicht Gefahr, sich prostituirt zu sehen.
Übrigens habe ich auch mein Italien, wie Du; nur daß ich mich dahin immer nur die Sonnabende und Sonntage retten kann. Es heißt Tribschen und ist mir bereits ganz heimisch. In letzter Zeit bin ich, kurz hintereinander, vier Mal dort gewesen, und dazu fliegt fast jede Woche auch ein Brief dieselbe Bahn. Liebster Freund, was ich dort lerne und schaue, höre und verstehe, ist unbeschreiblich. Schopenhauer und Goethe, Aeschylus und Pindar leben noch, glaub es nur.
Deine Beobachtung über das Anlernen künstlerischer Genußfähigkeiten ist mir wichtig: ich komme neuerdings, so aus „heiler Haut“ darauf, in mir die Möglichkeit zu entdecken Landschaften-Gemälde innerlich einzusaugen. Dargestellte „historische Bilder, der Mensch in seiner Bewegung bleibt mir ewig fern; ich bin sehr unplastisch. Aber so ein Landschaftsbild macht mich ruhig und erwartungsvoll. —
Nicht wahr, auf Deiner Rückreise bleibst Du einige Zeit bei mir in Basel? Romundt habe ich für den Anfang des Wintersemesters eingeladen: er will zu meiner Freude kommen. Im Oktober lebe ich mit Mutter und Schwester am Genfersee.
Im Winter lese ich Geschichte der vorplatonischen Philosophen und Hesiods Tage. Meine jetzige Vorlesung über die Choephoren ist recht zu meinen Vergnügen gediehen.
Es ist ein reiner blauer kühler Herbstmorgen, man spürt nie mehr die verkümmerte Flügelhafligkeit seiner Seele. Sonst käme ich wohl über die Berge, wohl über das breite Thal
zu Dir, liebster Freund
Erwin Rohde.