1869, Briefe 1–633
33. An Erwin Rohde in Florenz
<Naumburg, 7. Oktober 1869>
Heil und Segen voran!
die Überschrift des Briefes zeigt Dir, welche Üppigkeit mir zu Theil geworden, heimatliche Wärme und Erinnerungsfülle.
Draußen vor den Fenstern liegt der gedankenreiche Herbst im klaren mildwärmenden Sonnenlichte, der nordische Herbst, den ich so liebe wie meine allerbesten Freunde, weil er so reif und wunschlos-unbewußt ist. Die Frucht fällt vom Baume, ohne Windstoß.
Und so ist es mit der Liebe der Freunde: ohne Mahnung, ohne Rütteln, in aller Stille fällt sie nieder und beglückt. Sie begehrt nichts für sich und giebt alles von sich.
Nun vergleiche die scheußlich-gierige Geschlechtsliebe mit der Freundschaft!
Ich sollte auch meinen, daß jemand, der den Herbst, wenige Freunde und die Einsamkeit wahrhaft liebt, sich einen großen, fruchtbar-glücklichen Lebensherbst prophezeien darf.
„Drum dulde, daß der
Parzen eine
„Den Herbst mir spinne,
lieb und lang
„Aus halbverkühltem Sonnen-
scheine
„Und Müßiggang.“
Aber Du weißt, welchen Müßiggang wir meinen: haben wir doch schon zusammen gelebt, als ächte σχολαστικοὶ dh. Müssiggänger.
Und was hindert uns, von jenem Lebensherbst zu hoffen, daß er wieder uns so zusammenbringt?
Sei dies denn Wunsch und Hoffnung, ausgesprochen am Gedenktage Deiner Geburt, aber immer und allezeit im Herzen getragen.!
Von hier aus suche ich denn die alten Erinnerungsstätten in Leipzig auf, und Romundt meldet mir freundschaftlichst, daß er bereits dort eingetroffen sei, um mich nicht zu verfehlen. Habe ich Dir geschrieben daß er meine Einladung angenommen hat, den Anfang des Wintersemesters in Basel zu erleben, und daß wir dort die schwierige Frage seiner Zukunftsstellung mitsammen erledigen wollen. Schreibe mir doch Deine Meinung: wie ich ihn jetzt kenne, nach der schönen Entwicklung des letzten Jahres, halte ich ihn der Aussicht auf einen philosophischen Lehrstuhl durchaus für würdig. Wohlverstanden der Aussicht! Er wird viel zu thun haben, zur systematischen Bewältigung ganzer philosophischer Disciplinen. Und es möchte noch manches Jahr hingehen dürfen.
Übrigens wünsche ich unser Zusammentreffen auch deshalb so sehnlich, weil eine ganze Fülle von aesthetischen Problemen und Antworten seit den letzten Jahren in mir gährt, und mir der Rahmen eines Briefes zu eng ist, um Dir etwas darüber deutlich machen zu können. Ich benütze die Gelegenheit öffentlicher Reden, um kleine Theile des Systems auszuarbeiten, wie ich es zB. schon mit meiner Antrittsrede gethan habe. Natürlich ist mir Wagner im höchsten Sinne förderlich, vornehmlich als Exemplar, das aus der bisherigen Aesthetik unfaßbar ist. Es gilt vor allem kräftig über den Lessingschen Laokoon hinauszuschreiten: was man kaum aussprechen darf, ohne innere Beängstigung und Scham.
Windisch ist nun habilitirt: Brockhausens haben mich in Basel besucht, auch sind wir einen Tag in Tribschen zusammengewesen. Ritschl und Frau haben eine ganz unglaubliche Liebe und Hochschätzung vor mir: was ich Dir verrathe, um Dir Freude zu machen. Es sind doch höchst liberale Menschen, mit vieler eigner Kraft: sie ehren sich, wenn sie das Andersartige so unbefangenfreudig gelten lassen.
Und ich sollte mich sehr wundern, wenn Sie nicht auch über Dich so und ähnlich urtheilen. Das muß doch das Philologenthum empfinden, daß wir gute Freunde sind und unterschiedlich doch von allen anderen. Nicht wahr? Liebster Freund?
F.N.
Bis zum 17ten Okt. bin ich hier. — Die schöne und nützliche Collation des certamen ist ein rechter Freundschaftsdienst! Gott, daß solche ausgezeichneten Freunde wie Du, Handschriftsclaverei und ähnliche Scheußlichkeiten mir zu Liebe über sich nehmen!!