1869, Briefe 1–633
610. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Leipzig, 18. Januar 1869>
Mein lieber Freund,
ich bin sehr glücklich zu erfahren, in welchem Winkel Berlins Du jetzt hausest, nach dem Du eine Zeitlang ganz dem Bereiche meiner Briefe entschwunden warst; so daß ich fast Lust bekam, mich einmal im Inseratentheile der Kreuzzeitung nach Dir und Deinem Befinden zu erkundigen. Ich bin doppelt froh, gerade jetzt von Dir benachrichtigt und durch einen ausführlichen Brief angenehm überrascht zu werden, jetzt wo ich in der glücklichen Lage bin, einem theilnehmenden Freunde eine geheime, für diskrete Gemüther bestimmte, vorläufige Kunde ins Ohr zu flüstern. Nicht etwa die Kunde meiner Verlobung — bewahre mich Zeus — aber die zunächst viel wohler lautende einer Berufung. Es steht mir mit einiger Wahrscheinlichkeit (um nicht mehr zu sagen) die Aussicht offen, in nächster Zeit als Prof. extraor. (mit 3000 fr.) an die Universität Basel berufen zu werden.
Ich weiß im Voraus, wie herzlich Du mein lieber Freund, diese Neuigkeit begrüßen wirst: und ich wünsche nur Dir recht bald etwas Definitives schreiben zu können. Nicht wahr, die Sache hat etwas Mährchenhaftes, Siebenmeilenstiefelähnliches? Das Seltsamste ist immerhin, daß es wirklich in der Welt vollkommen vorurteilsfreie, geistig unbefangene und Formalitäten abgeneigte Regierungsbehörden giebt: wenigstens liegt für mich nur hierin das Erstaunliche jener Geschichte. Sind wir doch in Preußen, und speziell im Unterrichtsfache etwas anders gewöhnt. Zeter! Zeter! Wie Vater Schopenhauer so schön singt.
Mein hiesiges und jetziges Leben hat sich sehr gegen mein früheres umgewandelt. Erstens wohne und lebe ich in der Familie des Prof. Biedermann, des Redakteurs der Deutschen Allgemeinen, und zwar sehr hübsch. Sodann bin ich in mehreren Familien eingeführt: besonders nahe aber steht mir der Kreis des Prof. Brockhaus, in dem ich das seltne, ja einzige Vergnügen hatte Richard Wagner, den Bruder der Frau Prof. Brockhaus, kennen zu lernen. An jenem glücklichen Abende hat er uns aus seiner Selbstbiographie vorgelesen, „Meistersinger“ gespielt und gesungen und mit mir speziell über Schopenhauer, als warmer Anhänger, gesprochen. Auch habe ich kürzlich zu meiner Freude einen brieflichen Gruß von ihm aus Luzern bekommen; nun, wenn die Götter es wollen, lebe ich von Ostern ab recht in seiner Nähe. — Diese Woche werden in Dresden die Meistersinger aufgeführt, ein Werk, zu dem ich die allerstärkste Zuneigung fühle, so daß ich trotz des mächtigen Arbeitsdranges hinüberfahren werde.
Ach hätte ich das Vergnügen, mit Dir einmal wieder an Ort und Stelle zusammen zu sein, damit wir gegenseitig unsre Vergangenheiten controlieren, gleiche Erfahrungen und Erkenntnisse uns mittheilen könnten. Auf mich stürmt nun jetzt der heiße Lebenssommer ein mit einer schwer wuchtigen Last der Geschäfte: und oftmals werde ich an die treuen Freunde denken, denen ich vor allem den Genuß und die geistige Erhebung der schönen akademischen Jahre danke. Vergiß mich nicht und behalte einen Platz in Deinem Herzen frei für
Deinen treuen
Friedr. Nietzsche.
Adr.: Dr. Nietzsche, Leipzig, Lessingstr. 22, II Trep.