1869, Briefe 1–633
40. An Erwin Rohde in Rom
<Basel, 11. November 1869>
Aber, mein liebwerthester Freund, wer darf solche verführerische Briefe schreiben? Glaube mir, wenn ich so etwas lese, wird mir der harte Bissen meines jetzigen Daseins noch im Munde zum Stein; der Fisch meiner Professur ist nicht einmal „marinirt“ sondern wird zur Schlange. Oder war diese Professur nicht eine Schlange, die mich verführt hat, weg vom Pfade, der zum Freunde und in die blauen Weltwunder führt?
Ich will in Deiner Sprache reden. Ich las Deinen Brief: und mir war, als wachte ich plötzlich auf, und es wäre tiefe braune Nacht um mich, und ferneher klänge so ein sehnsüchtiger Laut, wie ich ihn lange nicht gehört.
„Schweig mir von Rom“ sagt der arme Tannhäuser, der dort zu keinem grünen Zweig gekommen war; ich sage dasselbe, weil ich dort zu einem gekommen wäre: während ich hier in der musenlosen Stadt, in harter Arbeit lebe und klebe, mit zerbrochnen Flügelchen und geknickten Beinchen!
Zum Beispiel:
Ich lese in diesem Winter — auf Verlangen der Studenten — lateinische Grammatik! Homo sum — aber dies ist gar zu unmenschlich und mir überdies verdammt alienum.
Du bist eigentlich recht in Üppigkeit und Wollust, im Berge der Frau ARS und übrigens auch der heiligen MARIA so nahe, als man eben dem heiligen PAPA sein kann.
Auch tönt von Leipzig her frohe Kunde: Ritschl schreibt mir, daß ihm von verschiednen Seiten, besonders von der Dindorfschen der Pollux sehr gelobt werde, daß er aber die Schrift noch nicht zu sehen bekommen habe.
Schicke ihm doch ein Ex., womöglich mit Widmungsverschen. Der alte gute Schäker hat so was so gern. Er sammt Zubehör war wirklich rührend liebenswürdig, als ich in Leipzig meine Besuche machte. Auch glaube ich, daß man Dich dort anders kennt als es vielleicht früher der Fall war. — Dem alten Vischer habe ich ein Exemplar des ὌΝΟΣ geschenkt, und er hat seine Freude daran gehabt.
Der Pollux ist eine so treffliche und lehrreiche Arbeit, daß ich voraussetze, man fängt nächstens mit Dir Unterhandlungen über jene Schlange (ahi anguis unc — sieh meine Sprachvergleichereien!) an, und optumo iure.
Wenn Du beiläufig vitas Homeri oder Hesiodi siehst, so thu mir den Gefallen sie zu collationieren. Besonders die des PseudoHerodot. Soll ich Dir Westermann biogr<aphi> schicken? In Homericis schlendere ich so für mich hin und finde allerlei: auch war mir Deine Collation schon mehrfach ersprießlich. Vom πέπλος besitze ich schon eine Collation, Rose auch. Unnütz.
Nun ein bis zwei Bitten. Kommen Dir — verzeih meiner Ignoranz — in Rom etc. auch Dürersche Blätte<r> zu Gesicht? Ich bin hinter einem her, genannt die Melancholie.
Neulich hat mir der Himmel zwei große Bilder (Photogr.) Schopenhauers bescheert, so daß ich jetzt mit dem Deinigen drei besitze. Ich lasse jetzt von einem sehr talentvollen Photographen ein ganz großes machen, und dürfte, falls es gelingen sollte, Dir unsern trübselig-sonnenhellen Freund nach Rom addressieren, zu Deiner und seiner Erbauung!
Über Hartmann mit Dir einmündig und einmüthig. Doch lese ich ihn viel, weil er die schönsten Kenntnisse hat und mitunter in das uralte Nornenlied vom fluchwürdigen Dasein kräftig einzustimmen weiß. Er ist ein ganz gebrechlicher contrakter Mann — mit etwas Bosheit, scheint mir, hier und da auch kleinlich und jedenfalls undankbar. Und das ist für mich ein Halt in der Ethik und der ethischen Beurtheilung von Menschen und Thieren.
Übrigens „Ehre Preis Lob und Dank“ (Anfang meiner Schlußfuge, wie so häufig beim alten Bach) der Einsamkeit, die uns selbst und unsre Freunde erhält. Ich streife alles Unbequeme öffentliche Förmlichleere von mir ab und lebe so bedürfnißlos in der warmen Winterstube: freilich jetzt gerade in Niederungen des Daseins, mehr planimetrisch als kubisch. Und nicht einmal wie bei Manfred „Erscheinung eines schönen Weibes“!

Pax nobiscum!
Liebster Freund!
F.N.