1869, Briefe 1–633
1. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
Basel, Spalenthorweg 2.<20. April 1869>
Liebe Mutter und Schwester,
gestern vor acht Tagen bin ich von Naumburg abgereist und gestern in Basel angelangt. Der erste Tag brachte mich Abends gegen 11 nach Köln und war bei weitem der unausstehlichste, den ich bisher erlebt habe. Dienstag Abend fuhr ich nach Bonn hinüber und habe dort in angenehmster Weise den Mittwoch verlebt, alte Erinnerungsstätten aufsuchend und neue Bekannte findend. Den ganzen Donnerstag verbrachte ich auf dem Dampfschiff, bei herrlichem Frühlingswetter, landete spät Abends bei Bieberich, unweit Mainz und fuhr nach Wiesbaden mit der Eisenbahn. Dies habe ich mir am andern Tage angesehn, ohne mich zu sehr angezogen zu fühlen; Mittags fuhr ich nach Heidelberg und sah Abends in schönster Beleuchtung, in blühender Umgebung die berühmte Schloßruine. Dabei traf ich einige Leipziger Bekannte. Den Sonnabend blieb ich dort, in einem einfachen aber guten Gasthof und arbeitete an meiner Antrittsrede. Sonntag hatte ich vor nach Basel direkt zu fahren, als ich aber eine Viertelstunde vor Karlsruhe war, wurde ich umgestimmt. Es stiegen nämlich in mein Coupé einige junge Leute, die die „Meistersinger“ in Karlsruhe hören wollten. Dieser Lockung konnte ich nicht widerstehen: ich stieg aus, ließ mein Billet auch für den nächsten Tag als gültig erklären und erquickte mich Abends an einer vortrefflichen Aufführung dieser meiner Lieblingsoper. Dies war mein Abschied von deutschem Boden. Montag um 2 Uhr kam ich in Basel an und logirte mich in der „Krone“ ein.
Jetzt sitze ich nun bereits in der provisorischen Wohnung, die ich Euch nicht genauer schildern kann als es Vischer bereits gethan hat. Sie ist ziemlich häßlich, hat aber den Vorzug etwa 20 Schritt entfernt, meiner definitiven Wohnung schräg gegenüber zu liegen. Dagegen werde ich wohl mit dieser zukünftigen zufrieden sein dürfen: mindestens machen die Zimmer, die College Schönberg unter den für mich bestimmten Zimmern bewohnt, einen sehr angenehmen Eindruck. Nachmittags war ich beim Bibliothekar Vischer, der mich nachher auf Eisenbahn, Speditionsgeschäft und Post begleitete. Auf der Post hatte ich das Vergnügen Eure Briefe vorzufinden, mit den Volkmannschen Zeilen. Ich wünschte ich wäre erst eingerichtet und fühlte mich in alter gewohnter Thätigkeit. In den nächsten Tagen will ich daran gehen mich meiner 60 Visiten zu erledigen.
Ich esse bei Recher am Centralbahnhof, mit den Collegen Schönberg und Hartmann und zwei andern Herren. Ich bin überrascht durch die Güte der Speisen, die nichts von der Restauration an sich haben. Es giebt Suppe, Rindfleisch eine zweite Fleischspeise und Braten. Also bürgerlich.
Sehr vermisse ich an Ort und Stelle einen befreundeten Menschen. Wahrscheinlich weil ich’s bisher anders gewohnt war. Doch geht’s auch so. — Gustav Wilhelm Wenkel und Volkmann sagt meine besten Grüße. Heute nehmt fürlieb mit der Nachricht, daß ich glücklich hier angekommen bin, und es lernen muß, mich hier wohl zu fühlen.
Mit herzlichem Gruße
Euer Fritz