1869, Briefe 1–633
632. An Carl von Gersdorff in Berlin
<Naumburg, 11. April 1869>
Mein lieber Freund,
der letzte Termin ist herangekommen, der letzte Abend, den ich noch in der Heimat verlebe: morgen früh geht’s hinaus in die weite weite Welt, in einen neuen ungewohnten Beruf, in eine schwere und drückende Athmosphaere von Pflicht und Arbeit. Wieder einmal gilt es Abschied nehmen: die goldne Zeit der freien unumschränkten Thätigkeit, der souveränen Gegenwart, des Kunst- und Weltgenusses als unbetheiligter oder wenigstens schwach betheiligter Zuschauer — diese Zeit ist unwiederbringlich hinüber: jetzt regiert die strenge Göttin, die Tagespflicht. „Bemooster Bursche zieh’ ich aus“ Du kennst ja das ergreifende Studentenlied. Ja ja! Muß selber nun Philister sein! Irgendwo hat dieser Satz immer seine Wahrheit. Man ist nicht ungestraft in Amt und Würden — es handelt sich nur darum ob die Fesseln von Eisen oder von Zwirn sind. Und ich habe noch den Muth, gelegentlich einmal eine Fessel zu zerreissen und anderwärts und auf andre Weise das bedenkliche Leben zu versuchen. Von dem obligaten Buckel der Professoren spüre ich noch nichts. Philister zu sein, ἄνθρωπος ἄμουσος, Heerdenmensch — davor behüte mich Zeus und alle Musen! Auch wüßte ich kaum, wie ich’s anstellen sollte, es zu werden, da ichs nicht bin. Einer Art des Philisteriums bin ich zwar näher gerückt, der species „Fachmensch“; es ist nur zu natürlich, daß die tägliche Last, die allstündliche Concentration des Denkens auf bestimmte Wissensgebiete und Probleme die freie Empfänglichkeit etwas abstumpft und den philosophischen Sinn in der Wurzel angreift. Aber ich bilde mir ein, dieser Gefahr mit mehr Ruhe und Sicherheit entgegen gehen zu können als die meisten Philologen; zu tief wurzelt schon der philosophische Ernst, zu deutlich sind mir die wahren und wesentlichen Probleme des Lebens und Denkens von dem großen Mystagogen Schopenhauer gezeigt worden, um jemals einen schmählichen Abfall von der „Idee“ befürchten zu müssen. Meine Wissenschaft mit diesem neuen Blute zu durchdringen, auf meine Zuhörer jenen Schopenhauerischen Ernst zu übertragen, der auf der Stirne des erhabnen Mannes ausgeprägt ist — dies ist mein Wunsch, meine kühne Hoffnung: etwas mehr möchte ich sein als ein Zuchtmeister tüchtiger Philologen: die Lehrergeneration der Gegenwart, die Sorgfalt für die nachwachsende Brut, alles dies schwebt mir vor der Seele. Wenn wir einmal unser Leben austragen müssen, versuchen wir es, dieses Leben so zu gebrauchen, daß andere es als werthvoll segnen, wenn wir glücklich von ihm erlöst sind.
Dir, theurer Freund, mit dem ich in vielen Grundfragen des Lebens eins bin, wünsche ich das Glück, das Du verdienst, mir Deine alte treue Freundschaft. Lebe wohl!
Friedrich Nietzsche Dr.
Ich danke Dir herzlich für Deine inhaltsreichen Briefe. Verzeih es meiner πολυπραγμοσύνη, wenn ich so spät danke. Wieseke habe ich brieflich gedankt
Adr.: Prof. Dr. Friedrich Nietzsche in Basel.