1869, Briefe 1–633
2. An Franziska Nietzsche in Naumburg
<Basel, Mai 1869>
Liebe Mutter,
ich schreibe in der Voraussetzung, daß unsre Lisbeth nun glücklich auf die Universität Leipzig übergesiedelt ist, und daß sie dort mit Vergnügen den weiblichen Studenten spielt. In Deiner Einsamkeit wirst Du wohl Verlangen tragen, etwas von uns zu hören. Was mich betrifft, so habe ich bis jetzt allen Grund mich hier wohl zu fühlen, aber die bestimmte Hoffnung, in einiger Zeit noch mehr eingewohnt und behaglicher zu leben. Jetzt giebt’s zu viel Neues. Auch ist das ewige Bekanntwerden mit neuen Menschen mir schrecklich lästig. Ich bin mit meinen Visiten noch lange nicht zu Rande; aber schon erfolgt der Rückschlag, und um die Mittagsstunde bin ich vor meinen Collegen, den Rathherren und Stadträthen nicht sicher. Auch die Einladungen beginnen langsam. Über die Basler läßt sich viel sagen, aber wenig, das nicht Anlaß zu Mißverständnissen gäbe, wenn man die Leute nicht immer vor Augen hat.
Meine Vorlesungen halte ich jeden Wochentag Morgens um 7 Uhr. Die Schulstunden am Pädagogium machen mir ziemliches Vergnügen. Ich fand Deinen Brief zu meiner Freude gerade als ich aus meiner ersten Vorlesung kam.
Zunächst kommt mir die Thätigkeit noch etwas anstrengend vor. Auch muß ich mich erst an das Klima gewöhnen, es giebt hier viel Wind und viel Zahnschmerzen.
Mein Umgang beschränkt sich einstweilen auf meinen nächsten Nachbarn und baldigen Hausgenossen, den Professor Schönberg, einen Nationalökonomen der zu gleicher Zeit mit mir hierher berufen ist: der auch, ebenso wie College Hartmann, bei Recher am Centralbahnhof ißt.
Die Gegend ist übrigens bemerkenswerth schön und lockt nach allen Seiten hin zu den besten Ausflügen, in den Jura, in die Vogesen, in den Schwarzwald: alles in nächster Nähe.
Unser Gehalt wird verrückterweise halbjährlich gezahlt und zwar postnumerando am 1 Juli und am 1 Januar.
In der Mitte des Juli haben wir Ferien: aber ich weiß nicht, ob ich Euch rathen möchte, um diese Zeit hierher zu kommen. Ich bin hier noch zu wenig eingerichtet, zu wenig bekannt, und möchte Euch gern mit den Schneebergen bekannt machen, nachdem ich selbst einige Erfahrung in ihnen habe. Jetzt fehlt es mir aber an aller Zeit, und speziell die Ferien werde ich der Vorbereitung widmen müssen.
Indessen darüber bekommst Du noch nähere Nachricht.
Briefe hierher haben mir Ritschl geschrieben, ebenso Deussen, Romundt, der Lieutnant Hempel und der gute Zarnke, der seine Photographie mitschickte.
Lebe wohl und erfreue mich bald wieder mit Nachricht. Es fällt mir ein, noch nicht gemeldet zu haben, daß alles auf das Beste gepackt bei mir angekommen ist: daß aber die Kosten für die Leipz. Kiste bedeutend waren. Bestelle mir doch schleunigst bei Haverkamp einen schwarzen Rock zu Visiten. Man trägt hier nie einen Frack.
Dein Fritz.
Spalenthorweg
2.