1869, Briefe 1–633
38. An Franziska und Elisabeth Nietzsche in Naumburg
<Basel, 27. Oktober 1869>
Heute darf ich mir die Erholung eines Briefes an Euch gewiß gönnen: nachdem ich von neun Uhr Morgen bis Mittag und wieder von zwei Uhr bis ½5 in Examenangelegenheiten, Versetzungs- und Censursorgen abwesend war, auch anderthalb Stunde selber hintereinander examinirt habe. Wie beneidenswerth ist dagegen doch die Existenz eines Schülers!
Zuerst nun die Thatsache, daß ich gestern: sage Dienstag Mittag erst in den Besitz der nöthigen Kiste gekommen bin: noch dazu mit nur halbem Deckel; wie es übrigens bei dem dünnen Holz und der Schwere des Inhaltes vorauszusehen war. — Der Inhalt war gut erhalten: doch hoffte ich die Zuckerdose, die Lampe usw. noch zu finden.
Gestern wurde ich durch einen schönen Brief des Hofgerichtsadvokat Hofmann in Darmstadt und zusammen durch eine Karte von Rittergutsbesitzer Wieseke erfreut und überrascht: denn es kam wieder ein großes Schopenhauerbild an, und zwar wesentlich verschieden. Weshalb ich es Dir zuschicke, liebe Lisbeth, damit es Schulz zur Regulirung diene.
Der Brief der Frau Bülow, der mich vergebens in Naumburg aufsuchte, enthält übrigens folgende Stelle, die ich als Aufforderung zum Tanz hiermit niederschreibe:
„Wollen Sie Ihrer Fräulein Schwester freundlichst für ihre bereitwillige Unterstützung in der Portraitangelegenheit danken, noch mehr aber für die gegen mich gehegte wohlwollende Gesinnung. In einem geprüften Leben weiß man solche Kundgebungen nach ihrem ganzen Werthe zu schätzen. Ich weiß nicht, warum ich wegen dieses Bildes doch trotz aller Brockhausischen Kleinlauterei hoffnungsvoll gestimmt bleibe.“
Aber nun mußt Du auch etwas Reelles thun. Meinetwegen hinter dem breiten Rücken der Familie Brockhaus und Fräulein Doris.
Noch eine hübsche Stelle aus dem Briefe: „Was unsre Stimmung betrifft: so glaube ich, daß wir uns Sancho’s tiefsinnige Logik zu Gemüthe gezogen haben: „„die Traurigkeit ist nicht für die Thiere gemacht, sondern für die Menschen; wenn ihr aber die Menschen gar zu sehr nachhängen, so werden sie zu Thieren.““ Und so sind wir denn heiter ohne besondre äußere Veranlassung, denn selbst die privaten Verhältnisse stoßen auf die herkömmlichen Langwierigkeiten usw.“
Als ich von Naumburg fortfuhr, kam mir zum Bewußtsein, daß es doch eine rechte Hetzjagd war und nicht so angenehm als es hätte sein können. Indeß ist das Letzte vielleicht nur eine Phantasmagorie. Realiter haben wir doch heitere und freundliche Stunden verlebt: dazu war die Gegenwart des guten Windisch, noch mehr der Aufenthalt in Leipzig so anmuthig, daß ich die etwas langweilige Rolle meiner Naumburger Freunde, vollends die Thierquälerei jener „ernst“-haften Familie Krug recht gut vergessen könnte. Für Wenkel habe ich aufrichtige Besorgnisse: er braucht zwingend neue Umgebungen. Aber was thun?
Übrigens werde ich, wenn ich wieder einmal in dieser kalten Jahreszeit reise, mich besser vorsehen: die Nächte in der Eisenbahn waren furchtbar. Und meine Gesundheit ist jetzt noch davon angegriffen.
Hier erfreue ich mich der rothen „Ecke“, des rothen Sophas und der rothen Tischdecke, jedes in einer anderen Nuance. Aber mein Ofen ist warm, ich habe Doppelfenster und trinke Kakao.
Mit herzlichem Gruß
in alter Anhänglichkeit
FN.