1869, Briefe 1–633
46. An Paul Deussen in Minden
Basel Sonntag im December. <19. Dezember 1869>
Mein lieber Freund, daß ich so weit oben anfange, ist ein Beweis dafür, wie gern, also auch wie viel ich jetzt an Dich schreibe. Nämlich als Dein letzter Brief ankam, war ich gerade aus dem Bette aufgestanden und dachte beim Trinken meines Kakao, warum nur Freund Paul nicht etwas angelegentlicher schreibt: oder ob ich gar wieder was Unerhörtes, höchst Beleidigendes im letzten Briefe gesagt habe und dergleichen. Denn bisweilen begegnet es mir, daß meine Freunde irgend ein Wort zu tragisch nehmen: da sie mich doch kennen sollten und diese ihre Kenntniß und Erfahrung höher schätzen dürften als ein gelegentliches Wort. Solches überlegend empfing ich Deinen Brief, und hatte nur wenig gelesen, als ich auch etwas wie von einer veränderten Luft spürte; und als Du mir dann von Deinen Schopenhauerianis erzählst, wie Dir jener Name fast schon ein heiliger sei usw — da hörte ich bereits nichts Neues mehr: so untrüglich ist meine Witterung ὡς Λακαίνης εὔρινος βάσις.
Da Du etwas aus meiner Erfahrung in dieser so kräftig von mir eingesaugten Athmosphaere vernehmen willst: so will ich erst ein paar Glaubenssätze hinschreiben. Eine Philosophie, die wir aus reinem Erkenntnißtrieb annehmen, wird uns nie ganz zu eigen: weil sie nie unser eigen war. Die rechte Philosophie jedes Einzelnen ist ἀνάμνησις. Daher der große Ruhm auch schlechter Philosophen. Du willst eine Philosophie, die Dir zugleich einen praktischen Canon giebt: frage Dich nur genauer nach den eigensten Triebfedern Deines vergangnen Handelns: mit Bewußtsein kann man sich keine neuen Triebfedern schaffen. Das Vorhandene ist da, aber beileibe nicht, weil es da ist, auch vernünftig. Nur ist es nothwendig.
Auch die Philosophie, die der Mensch zur seinen macht, ist nothwendig. Die Aesthetik hat noch keinen zum Dichter gemacht. Du stellst die Dinge auf den Kopf.
Schreibe mir doch einmal während der Weihnachtsferien, in denen Du gewiß zu einem längeren Briefe Zeit findest. Addressiere aber nicht nach Basel, denn ich verlebe Weihnachten bei meinem edlen und im höchsten Sinne genialen Freunde Wagner und unsrer ausgezeichneten Freundin Cosima von Bülow d. h. auf Tribschen bei Luzern. Dieses Tribschen ist das Wagner’sche Landhaus. Aber schreibe mir doch, wo Du anzutreffen bist: vielleicht schicke ich Dir als Geburtstagsgeschenk (7 Jan.) meine Rede über „Homer und die klassische Philologie.“ Dies „vielleicht“ bezieht sich nur darauf, daß ich noch nicht weiß, ob ihr Druck bis dahin beendet ist.
Jetzt von meinem Basler Dasein. Ich lese diesen Winter „lateinische Grammatik“ vor 9 Zuhörern dh. vor allen hiesigen Philologen: am Pädagogium treibe ich Hesiod und Plato. Im Herbst war ich in der Heimat, auch in Pforte, die Deines Lobes voll ist. Vor allem in Leipzig war ich recht glücklich und erinnerungsselig.
Alles was ich Dir erzählen möchte, merke ich da eben, ruht auf Voraussetzungen, die Dir nicht bekannt sind. Ja! Vier Jahr auseinander! Mit Rührung fiel mir gestern mein*) „Nationalvers“ aus der Bonner Zeit ein. Ach!
Übrigens erwarte ich Deine baldige Verlobungsanzeige. — Hast Du Peipers Recension der Deussen’schen Schrift im phil. Anzeiger v. Leutsch (Octoberheft) gelesen?
Grüße Dein Lottchen, Freund! sagt Schiller.
Pax nobiscum.
F.N.