1869, Briefe 1–633
20. An Gustav Krug in Naumburg
<Pilatus, 4. August 1869> Von morgen an bin ich wieder in Basel.
Mein lieber Gustav,
zum Beweise, daß auch in der Höhe von 6000 Fuß über dem Meer, trotz der Einhüllung in eiskalte Wolken meine Freundschaft und Anhänglichkeit an Dich nicht einfriert, setze ich mich jetzt hin, mit schlechter Feder und erstarrten Fingern, wie sie beide der unfreundlich düstre Pilatus mir verschafft, an Dich zu schreiben und Dir gleich von meinen jüngsten Erlebnissen zu erzählen, wie sie Dich mehr als irgend einen meiner Freunde interessiren werden. Wieder habe ich einmal die letzten Tage bei meinem verehrten Freunde Richard Wagner verlebt, der mir in liebenswürdiger Weise das unumschränkte Recht häufiger Besuche ertheilt hat und mir böse ist, wenn ich einmal vier Wochen pausirt habe, von diesem Rechte Gebrauch zu machen. Du wirst mir nachfühlen, was ich mit dieser Erlaubniß gewonnen habe: denn dieser Mann, über den kein Urtheil bis jetzt gesprochen ist, das ihn völlig charakterisirte, zeigt eine so unbedingte makellose Größe in allen seinen Eigenschaften, eine solche Idealität seines Denkens und Wollens, eine solche unerreichbar edle und warmherzige Menschlichkeit, eine solche Tiefe des Lebensernstes, daß ich immer das Gefühl habe vor einem Auserwählten der Jahrhunderte zu stehen. Dazu war er jetzt gerade so glücklich, da er eben den dritten Akt seines „Siegfried“ beendet hatte und im üppigsten Kraftgefühl eben an die Composition der „Götterdämmrung“ schreitet. Alles was ich nun aus dem „Siegfried“ kenne, nach dem ersten Entwürfe, ist großartig concipirt z.B. der Kampf Siegfrieds mit dem „Wurm“, das Vogellied usw. Am Sonntage Vormittag habe ich, in meiner reizenden Stube mit freistem Anblicke des Vierwaldstätter Sees und des Rigi, eine Anzahl Manuscripte durchmustert, die mir Wagner übergeben hatte, eigenthümliche Novellen aus seiner ersten Pariser Zeit, philosophische Aufsätze und Dramenentwürfe, vor allem aber ein tiefsinniges Exposé, gerichtet an den „jungen Freund“ den baierischen König, zur Aufklärung desselben über Wagners Ansichten in „Staat und Religion“. Niemals ist schöner edler und tiefer zu einem König gesprochen worden; schade, daß der junge Mann, wie es scheint, so wenig davon gelernt hat. — Das ganze Leben Wagner’s ist durchaus patriarchalisch: die geistvolle und edle Frau von Bülow paßt durchaus hinein in diese ganze Athmosphäre; ihr hat W. seine Selbstbiographie diktirt. Dazu wimmelt alles von kleinen „Bülows, Elsa, Isolde, Senta Siegfried usw. die in ihrer Gesammtheit auch eine Biographie Wagner’s bilden. Am Sonnabend kam Nachmittags ein Herr Sérow, russisch. wirkl. Staatsrath und Verfasser einer Reihe Artikel über Berlioz in der gazette de St. Petersbourg, die ich Dir sehr empfehle, da sie bei aller ihrer Strenge und Grausamkeit des Urtheils durchaus die Meinung Wagners über Berlioz aussprechen. Zum Geburtstage Wagner’s war ich eingeladen, konnte aber aus Amtsverhinderungen nicht kommen und habe somit die Bekanntschaft mit dem ersten Quartett Frankreichs, ja nach Wagner, der Welt überhaupt, versäumt. Außerdem war noch ein geistreicher Elsasser geladen, der einen sehr bedeutenden ausführlichen Artikel über Wagner (in der revue des deux mondes im Aprilheft) verfaßt hat und zum propagateur Wagnerschen Geistes in Frankreich sehr geeignet ist. In Paris wird also der Lohengrin durch die Anstrengungen Pasdeloups vorbereitet und Wagner will, ausnahmsweise, die Direktion der Hauptproben, vielleicht der Ausführung übernehmen. Sonst hält er sich völlig zurück, vor allem vor der Rheingoldaufführung in München, die nur eine Concession an den jungen König ist, im Grunde ein Widerspruch gegen die Gesammtbestimmung der Nibelungentrilogie. Doch was nützen alles diese unvermittelten Einzelnotizen? Könnte ich Dir nur einmal einige Stunden hintereinander erzählen, um Dir einen Begriff von dem wunderbaren Wesen dieses Genius zu verschaffen.
Diese Tage, die ich in Tribschen in diesem Sommer verlebt habe, sind unbedingt die schätzenswerthesten Resultate meiner Baseler Professur.
Wie wünschenswerth ist mir nun, daß Du im Laufe des Jahres den um Ostern geäußerten Gedanken einer Schweizerreise mit Wilhelm zur Ausführung bringst! Du kannst mich nicht verfehlen, da ich von morgen ab bis zum 15 September jedenfalls in Basel bin, festgehalten durch strenge und mühsame Berufsthätigkeit.
Grüße mir auf das Herzlichste Wilhelm und sage Deinen verehrten Angehörigen meine besten Empfehlungen. Ich denke gern an Naumburg, vornehmlich an die letzte Woche, die ich in meinem Vaterlande verlebt, Grenzscheiden zwischen Vergangenheit und Zukunft, die etwas vom Reiz, von der unbestimmten Hoffnungsseligkeit des Mulus-thums an sich trugen. Jetzt ist das Leben ernst, heiter aber, wie Du siehst und hörst, die Kunst!
In treuer Freundschaft
Fritz Nietzsche
Dr
Professor in Basel.