1869, Briefe 1–633
24. An Paul Deussen in Minden (Fragment)
Basel, 25. August 1869
Mein lieber Freund,
zum Zeichen daß ich gerne etwas von Dir hören möchte, daß ich mich aber noch lieber mit Dir unterhalten würde — breche ich die alte leidige Gewohnheit vom Hinüber und Herüber eines Briefwechsels und schicke ein zweites „Hinüber“ zu dem fernen Freunde.
Ob wir uns wohl verändert finden, wenn wir uns einmal wiedersehen! Schon Dein Äußeres kann ich mir nicht mehr vergegenwärtigen: denn was bedeutet die schlechte Photographie, die den Abiturienten Paul Deussen darstellt und in meinem Album steckt? Auch von meiner Photographie, die ich Dir das letzte Mal zusandte, wirst Du wenig haben, ja vielleicht gar Dir eine falsche Vorstellung machen εἴδωλον καὶ ψεῦδος! Und was schon vom Äußerlichen gilt, wie viel mehr vom Innern. Wir können uns nur Briefe schicken, und diese sind noch nicht einmal Photographien des Innern, sondern nur flüchtige Schattenbilder einer noch flüchtigeren Stimmung.
Zur Freundschaft gehört Gegenwart: sonst tritt an ihre Stelle der Kultus der Erinnerung.
Nun will ich die Namen der Menschen aufzählen, welche mir, seitdem Du mich nicht mehr kennst, näher getreten sind.
Zuerst einige auch Dir bekannte: in erster und einziger Stellung Dr. Erwin Rohde, von bester und seltenster Sorte und mir in rührender Liebe treu zugethan. Dann Dr. Heinrich Romundt, jünger als ich und daher mehr in der Stellung eines lernendmitstrebenden Freundes: mir außerordentlich werth wegen seiner philosophischen Gleichstimmung, so daß ich niemandem gegenüber etwas Längeres und Wichtiges lieber auseinandersetze als ihm. Dann Oberpfarrer Wenkel, tapferster und aussichtsreichster Gesinnungsgenosse in nomine Schopenhaueri: Verhältniß gegenseitigster Werthschätzung.
Neuerdings beglückende Annäherung der wärmsten und gemüthvollsten Art an Richard Wagner, das will sagen: den größten Genius und größten Menschen dieser Zeit, durchaus incommensurabel! Alle zwei, drei Wochen verlebe ich ein paar Tage auf seinem Landgute am Vierwaldstätter See und erachte diese Annäherung als die größte Errungenschaft meines Lebens, nächst dem, was ich Schopenhauer verdanke.
Über Ritschl habe ich Dir schon öfter geschrieben.
Von Frauen sind als die für mich einflußreichsten zu nennen Frau Ritschl und Frau Baronin von Bülow (Tochter Liszt’s.)
Gute Freunde und treue Kameraden sind mir noch folgende: Dr. Windisch in Leipzig, Volkmann in Pforte, Prof. Zarncke in Leipzig, Prof. Schönberg in Basel (Nationalökonom) Dr. Röscher, Dr. Kleinpaul. Alle die letzt genannten stehen mir nahe genug, doch nicht in der ersten Linie der Freundschaft.
Nicht wahr, das ist eine stolze Reihe von Namen, deren ich mich wohl erfreuen darf, zumal ich mit dem Prädikat „Freund“ sehr karg und haushälterisch bin und gar nicht darauf aus bin, nähere Bekanntschaften zu machen. Und nun sind alle die älteren und bewährten Namen noch nicht genannt, von Menschen, die mir schon befreundet waren, als Du mich kanntest.
Ein solches Verzeichniß ist jedenfalls lehrreich, und viele Betrachtungen kommen ganz ungesucht. Eine solche Freundesreihe ist gewissermaßen eine Projektion unsres Innern nach Außen, eine Art Tonleiter, auf der alle Tone unsres Wesens einen Ausdruck finden. Man wird nachdenklich. — Zum Glück und zur Heiterkeit bin ich wohl nicht geboren.
Das Wunderlichste ist, daß man zur Beurtheilung seiner Selbst sich nie völlig fähig fühlt und beim Versuch dazu sich eben so fremd ansieht und construirt als jeden beliebigen Andern. Deshalb sind äußerliche Maßstäbe so nützlich, wie zB. die oben erwähnte Freundesreihe. Nur daß man selbst sich scheut oder schämt, eine Consequenz zu ziehn und es lieber anderen überläßt: wie ich es heute z B. Dir überlasse, lieber Freunde, mir einmal Deine Betrachtungen über jene Liste mitzutheilen.
Ich bin schon viel zu alt, um eitel sein zu können: wie steht es mit Dir?
Wir leiden alle schwer am Leben.
Glücklich die harmlosen Blinden.........
Dein treuer Freund
Friedr. Nietzsche.
Wo ist unser Pförtner Kamerad Meier? Grüße ihn und bitte ihn in meinem Namen um meine Gedichte aus der Gymnasialzeit: falls er sie noch hat. Dieselbe Bitte ergeht an Dich: sonst ist alles fort.