1869, Briefe 1–633
15. An Erwin Rohde in Italien
<Basel, Mitte Juli 1869>
Mein lieber Freund,
weißt Du schon, was der Baseler „Bündelitag“ ist? Jedermann schnürt sein Bündel und läuft nach der Eisenbahn, alle Schulen, auch die Universität machen eine Erholungspause von 4 Wochen: und die Baseler Klimatologen behaupten, während dieser Zeit sei es physisch unzuträglich, in Basel zu bleiben. Also hinaus in die weite Welt! Aber wohin? Die großen Eisberge locken mich, wie ich zu meinem Erstaunen merke, gar nicht so sehr: und ich würde mit Wonne wieder das liebenswürdige Baierisch-Böhmische Gebirgsland aufsuchen, wenn es nur in Deiner Gesellschaft geschehen könnte, lieber Freund. Leider bist Du jetzt nun gerade in Süditalien: sonst wäre ich Dir vielleicht bis zu einem der norditalischen Seen entgegengereist und wir hätten uns, in einem Kahne liegend, mit dem Blick nach dem blauen Himmel, schaukeln lassen können, trotz aller Einsamkeit in der allerbesten und ersehnenswerthesten Gesellschaft. Nun sitze ich hier in Basel und weiß nicht, warum ich fortwandern soll: finde ich doch nirgends so eine rechte wahre innerlich heilende und kräftigende Erholung. An meinen „Collegen“ mache ich eine seltsame Erfahrung: ich fühle mich unter ihnen, wie ich mich ehedem unter Studenten fühlte: im Ganzen ohne jedes Bedürfniß mich mit ihnen näher abzugeben, aber auch ohne allen Neid: ja genau genommen, fühle ich einen kleinen Gran von Verachtung gegen sie in mir, mit dem sich ja ein sehr höflicher und gefälliger Verkehr ganz gut verträgt. Mein Vorgänger Kiessling war freilich, wie ich aus allem entnehme, eine ganz diverse Natur, zugänglich-sanguinisch, immer auf den Beinen, um eine Gesellschaft zusammenzutreiben usw. während ich an solchen gemeinsamen Spaziergängen mit 6-8 Collegen sehr wenig habe, unendlich weniger, als wenn ich ungestört und einsam für mich wandere. Allmählich gewöhnen sich die Leute auch daran, mich allein zu lassen, nicht ohne ein Gefühl des Bedauerns — denn sie glauben ich werde mich so nicht in Basel wohl fühlen und amüsieren — die gutherzigen Kerle.
Ich bin mit meiner akademischen Stellung zufrieden. Die Studenten haben Zutrauen zu mir, und ich suche sie bestens zu berathen, nicht bloß in philologicis. Übrigens habe ich jetzt schon das Vergnügen, daß Michaeli drei meiner bisherigen Zuhörer auf meinen Rath nach Leipzig gehen; dazu gerade die besten. — Für meine Vorlesungen in den nächsten Jahren habe ich mir einen Plan gemacht, ich lese alles das, was ich genauer lernen will oder lernen muß. Offenbar profitiere ich dabei am meisten. Meine Choephoren und das Lyrikercolleg gerathen zu meiner Freude recht produktiv, und jedenfalls besser als ich voraussehen konnte. Das nächste Semester lese ich Geschichte der vorplatonischen Philosophen und lateinische Grammatik, im Seminar Hesiods ἔργα.
Anbei kommt wieder eine Photographie von mir, die gut sein soll. Von Gersdorff habe ich rührende Nachrichten über die Schopenhauerische Propaganda in Berlin. — Der cod. Florent. ist Laurent. 56, 1. Über den Neapol. Palimpsest weiß ich nicht näheres. Zu finden wird er sein, da es nicht viel griechische Handschriften in der Borbonica giebt. Tischendorf deutete etwas von patristischem Inhalt an. — Adressiere jedenfalls nach Basel, Briefe werden nachgeschickt, wenn ich verreisen sollte. — Und so lebe wohl. Ich lebe in Hoffnung auf eine glückliche Zeit, die uns zusammenführt.
Treusten Angedenkens
Dein Freund.