1869, Briefe 1–633
623. An Paul Deussen in Oberdreis (Entwurf)
<Leipzig, zweite Februarhälfte 1869>
Lieber Freund,
da ich zu langen Auseinandersetzungen keine Zeit habe, so nimm mit folgenden Andeutungen fürlieb. Erstens sende ich s. v. r. Deinen eignen Brief mit, den Du so sorgfältig lesen magst, wie ich es gethan. Ob ich und meine Leipziger Freunde, denen ich ihn zur Prüfung vorlegte, ihn richtig verstanden und ausgelegt haben, sollst Du nun selbst beurtheilen, wenn er zu Dir, als ein Fremdgewordner, zurückkehrt.
Es giebt Momente, an denen sich die Solidität einer Freundschaft zu bewähren hat: und ich habe die Erfahrung gemacht, gerade bei dem vorliegenden Glücksfalle, von welcher Lauterkeit und Tiefe eine Freundschaft sein kann. Als spicilegium sende ich Dir, ebenfalls mit der Bitte um baldigste remission, einen Brief des amicissumi Rohde in Hamburg. Daß ich Dir etwas fremd geworden bin, ja daß Du mich eigentlich nicht mehr kennst, da Dir die Entwicklung der drei letzten Jahre, das will sagen, der wichtigsten Lebensjahre, so gut wie unbekannt ist — das habe ich mir öfter überlegt; in diesem Alter schadet die Entfernung der Freundschaft am erheblichsten.
Recht nackt gesprochen — erscheint mir Dein ganzes Räsonnement in allen Deinen Briefen unendlich unbedeutend und trivial: und wie sich mit einer solchen Flachheit des Denkens, einem so unphilosophischen Mangel an Lebensernst noch der Stolz paaren will, der lächerliche Bauernstolz einen Höheren nicht anerkennen zu wollen, das gestehe ich nur mit Mühe und mit einem Stoßseufzer auf die menschliche Verkehrtheit einzusehn.