1869, Briefe 1–633
6. An Erwin Rohde in Italien
<Basel, 29. Mai 1869>Adr. Prof Dr NietzscheBaselSpalenthorweg2.
Mein lieber Freund
heute endlich habe ich mir überlegt, daß es doch eine Art giebt Dich brieflich zu erreichen, ohne Deinen Aufenthalt durch einen Steckbrief der kön. italienischen Regierung ermitteln zu lassen: obwohl ich auch schon an diesen Gewaltakt gedacht habe. Ein Brief, den ich nach Florenz richtete (libreria Loescher) und an die Addresse des Dr. Wilmanns, ist ohne Antwort geblieben: besagter Dr. sollte mir nämlich Deine Existenz sicherstellen und überhaupt etwas von Dir erzählen: was er aber frevelhafter Weise, nicht gethan hat. Also schreibe ich heute an Deine Frau Mutter und schicke diesen Brief mit, der nun allerdings eine Reise fast so weit wie Amerika machen muß: was ich durch folgendes Stemma verdeutlichen kann

Wir hätten uns mit Leichtigkeit noch vor unserer gemeinsamen Abreise in Leipzig treffen können: wenn das Glück uns holder war. Denn wir sind thatsächlich an jenem Morgen, als Du von Leipzig fort fuhrst, aneinander vorbeigefahren, da ich denselbigen Morgen nach Leipzig reiste.
Hier nun in Basel, um Vergangnes vergangen sein zu lassen, ist alles im besten Zuge. Collegien alle Morgen um 7 Uhr (über Aesch. Choephoren und Geschichte der griech. Lyrik), alle Montag Seminar, alle Tage ein oder zwei Schulstunden. Ich lese am Pädagogium mit einer verständigen Klasse Plato und führe die glücklichen Bengels an milder Hand auf die philosophischen Fragen hin: dh. nur, um ihnen Appetit zu machen. Auch habe ich zu meiner Beschwerde doch zum erheblichen Nutzen der grammatischen Kenntnisse das griechische Extemporale eingeführt. Gestern hielt ich vor ganz gefüllter Aula meine Antrittsrede, und zwar „über die Persönlichkeit Homers“, mit einer Menge von philosophisch-aesthetischen Gesichtspunkten, die einen lebhaften Eindruck hervorgebracht zu haben scheinen. Mein Umgang zählt jetzt eigentlich nur nach Namen, nicht nach Personen: jeder Tag führt mir eine Masse neuer Visagen zu, die ich merken soll und muß — pro dolor. Nähere Beziehungen habe ich von vorn herein zu dem geistvollen Sonderling Jakob Burkhardt bekommen; worüber ich mich aufrichtig freue, da wir eine wunderbare Congruenz unsrer aesthetischen Paradoxien entdecken.
Sehr glücklich bin ich aber vornehmlich darüber, daß ich mit Richard Wagner auf das allerbeste bekannt geworden bin und am zweiten Pfingsttage einen Mittag und Nachmittag auf seine Einladung in seinem allerliebsten Landhause zugebracht habe, zusammen auch mit der gescheuten Fr. von Bülow (Liszts Tochter) Letztere lud mich neulich auch zu Wagners Geburtstag ein, um ihm eine Überraschung zu machen: leider mußte ich ,nein‘ sagen, als Docent, nach dem Standpunkte der Tugend. W. ist wirklich alles, was wir von ihm gehofft haben: ein verschwenderisch reicher und großer Geist, ein energischer Charakter und ein bezaubernd liebenswürdiger Mensch, von dem stärksten Wissenstriebe usw. Ich muß ein Ende machen: sonst singe ich einen Päan.
Alles was ich Dir heute schreibe ist eigentlich nur äußerliches statistisches Material: aber wie viel durchlebt man innerlich, wenn man so in das Leben hineingeworfen wird, wie es mein Schicksal will. — Ich habe neulich einmal den Verwegnen Wunsch gehabt, Du möchtest Dich hier habilitieren: verlangt wird von Dir eine Antrittsrede und Einreichung Deiner Arbeiten (Hast Du meine Ὄνοςanzeige im Centralblatt gelesen?)
Adieu theuerster Freund.
F. N.