1869, Briefe 1–633
11. An Wilhelm Pinder in Naumburg
<Basel, 4. Juli 1869>
Lieber Wilhelm,
das erste Lebenszeichen, das Du von mir aus Basel erhältst, wird nun gar zu einem Geburtstagsbrief. Da sieht man, welchen demoralisirenden Einfluß so ein Amt hat: man lernt seine heiligsten Pflichten, die Freundschaftspflichten, zu vernachlässigen. Heute aber, als ein Blick auf den Kalender mir mein begangnes Unrecht vor Augen führte, drängt es mich, von Dir Absolution zu erbitten, die ich natürlich am liebsten mündlich und personaliter zu haben wünsche, eingedenk nämlich jener feierlichen Rütliscene auf dem Naumburger Straßenpflaster und des dort gegebnen gegenseitigen Versprechens, baldigst wieder in Basel zusammenzutreffen und zwar zum Zwecke eines guten Frühstücks und andrer ernster Dinge.
Auf diese erquickliche Aussicht wollen wir heute, ein jeder im Weine seiner Heimat, bei Tische anstoßen.
Ich sollte denken, daß Dir nach den Stürmen und Aufregungen Deines Berufes häufig die Sehnsucht kommen müßte, seitab von Mördern und andern Strolchen einmal in einem Alpenthale etwas Dich auszuruhen. Solche Pläne mußt Du mir aber immer zuerst mittheilen: denn ich bin jetzt für alle meine Freunde der Alpenführer, der sie an der Grenze der Schweiz empfängt und es sich angelegen sein lassen wird, sein neues Vaterland mit seinen Schönheiten würdig zu präsentieren.
In dieser neuen Eigenschaft mich empfehlend, zugleich mit den besten Wünschen für Dein Wohl und unsre Freundschaft, endlich mit vielen angelegentlichen Grüßen an Gustav und Deine verehrten Angehörigen
bin ich
Dein alter Freund
Fritz Nietzsche Dr
Professor in Basel.