1869, Briefe 1–633
41. An Gustav Krug in Naumburg
<Basel, 17. November 1869>
Liebster Freund! Gruß und
Glückwunsch zuvor!
Und das zwar in aller Eile, da der Anfang eines Wintersemesters auch zu den holdesten Geschäften die Muße nimmt. —
Du glaubst nicht, wie gierig solche philologischen Zuhörer nach Weisheit und lateinischer Grammatik sind: bienen- und ameisenmäßig muß man schaffen, damit man täglich sein Füllhorn ausschütten kann.
Dies nur zur Erklärung, warum ich so schlecht und wenig schreibe: der Dämon des Berufs steht hinter meinem Stuhle. Und ehe den der Teufel holt, holt der Dämon mich.
Auch weiß ich jetzt wie die Nornen singen. Weißt Du wie das ward?
Persönlich würde ich Dir viel erzählen, was ich dem weißen Papier nicht anvertrauen kann und mag: Papier und Tinte sind dumm, und deshalb indiskret. Charta est κακόχαρτος: mit Hülfe des griechischen Lexikons eine wohl zu errathende Sentenz!
Vergiß auch im neuen Jahre nicht die alte Treue in unserm musikalischen Glaubenssatze: ist er doch zugleich ein echt- und schön-menschlicher!
Wir haben doch ein Recht behaglich zu schmunzeln, so viel reicher an schönsten und stärksten Genüssen und Erfahrungen zu sein, als andre, die Herzensleere, Unverstand und böser Wille immer mehr verarmen läßt! Wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen, was er hat!
Mag noch so sehr die widerliche „Bildung“ der Menge gegen alle starken und energischen Gefühle sein — ohne Vereinsamung ist nun einmal nichts Edles und Hohes zu gewinnen; wo alle gehen, läuft eben die Gemeinheit mit.
Vor der uns alle guten Genien bewahren mögen!
Mit herzlichsten Grüßen an
Dich und Wilhelm und in
alter Freundschaft
Fr. Nietzsche Prof.