1869, Briefe 1–633
53. An Friedrich Ritschl in Leipzig
Tribschen bei Luzern 29 Dec. 1869.
Hochverehrter Herr Geheimrath,
Heute habe ich Ihnen gar nichts Geschäftliches mitzutheilen, nur dass ich dankbar das Honorar empfangen habe, dass ich aus Bonn noch ohne Nachricht bin und dass ich an einer homerischen Abhandlung schreibe. Ueberall herrscht Ferienstimmung.
Beim Abscheiden eines für mich so bedeutungsvollen Jahres dürfen Sie es mir nicht verargen, wenn ich auch einmal einen ganz ungeschäftlichen Brief schreibe, nur zum Ausdruck, dass ich viel und dankbarlich Ihrer gedenke, und daß Sie von Allem, was mir jetzt noch Angenehmes widerfährt, den gebührenden Tribut bekommen sollen.
Dass ich zum Beispiel hier mich so zu Hause fühlen kann, wo ich die allererheblichste Förderung meiner Entwicklung täglich und stündlich erfahre, das ist Ihnen ebenfalls von mir auf das Register geschrieben worden.
Und nun weiss ich, wie viele in ähnlicher Lage sind und solche Register führen müssen, überall,
„doch in Deutschland, doch in Deutschland tausend und drei!“
Sie fahren wirklich in das neue Jahr hinein wie ein Triumphator: und wir andern laufen alle mit unsern Registern neben her und leugnen die Unsterblichkeit, bloss damit eine Wiedervergeltung schon auf Erden stattfinden müsse.
Also, verehrtester Lehrer, salve!
Sagen Sie auch Ihren werthen Angehörigen, dass ich ihnen meine besten Neujahrsgrüsse schicken will, zusammen mit den freundlichsten Empfehlungen von Richard Wagner und Frau Cosima.
In steter Dankbarkeit
Ihr getreuer
Friedrich Nietzsche