1882, Briefe 185–366
360. An Paul Rée und Lou von Salomé in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, gegen den 20. Dezember 1882>
Ich bin, um als Freigeist zu reden in der Schule der Affekte d. h. die Affekte fressen mich auf. Ein gräßliches Mitleid, eine gräßliche Enttäuschung, ein gräßliches Gefühl verletzten Stolzes — wie halte ich’s noch aus? Ist nicht Mitleid ein Gefühl aus der Hölle? Was soll ich thun? An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure. Ich schlafe nicht mehr: was hilft es 8 Stunden zu marschiren! Woher habe ich diese heftigen Affekte! Ach etwas Eis! Aber wo giebt es für mich noch Eis! Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, daß ich die Vernunft verliere: Wo ist noch ein M<ensch> den man verehren könnte! Aber ich kenne Euch Alle durch und durch.
Beunruhigen Sie sich nicht zu sehr über die Ausbrüche meines Gräßenwahns oder meiner verletzten Eitelkeit: und wenn ich selbst aus den genannten Affekten mir zufällig einmal das Leben nehmen sollte, so würde auch dann nicht gar zu viel zu betrauern sein. Was gehn Euch ich meine Sie und Lou, meine Phantastereien an! Erwägen Sie Beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die Einsamkeit vollends verwirrt hat. — Zu dieser, wie ich meine verständigen Einsicht in die Lage der Dinge komme ich, nachdem ich eine ungeheure Dosis Opium aus Verzweiflung eingenommen habe. Statt aber den Verstand dadurch zu verlieren, scheint er mir endlich zu kommen. Übrigens war ich wirklich wochenlang krank: und wenn ich sage, daß ich hier 20 Tage Orta-Wetter gehabt habe wird Ihnen mein Zustand begreiflicher erscheinen. Bitten Sie Lou, mir Alles zu verzeihen — sie giebt auch mir noch eine Gelegenheit, ihr zu verzeihen. Denn bis jetzt habe ich ihr noch nichts verziehen. Man vergibt seinen Freunden viel schwerer als seinen Feinden.
Da fällt mir Lou’s Vertheidigung ein. Seltsam! So oft sich Jemand vor mir vertheidigt, läuft es immer darauf hinaus, daß ich Unrecht haben soll. Dies weiß ich nun schon im Voraus, und so interessirt’s mich nicht mehr.
Sollte Lou ein verkannter Engel sein? Sollte ich ein verkannter Esel sein?
in opio veritas: Es lebe der Wein und die Liebe!
Machen Sie sich doch keine Skrupel! Ich bin’s ja so gewöhnt: in diesem Jahre werden sich Alle an mir ärgern, im nächsten vielleicht alle an mir freuen.