1882, Briefe 185–366
278. An Heinrich Köselitz in Venedig
Tautenburg. <4. August 1882>
Lieber Freund.
Eines Tages flog ein Vogel an mir vorüber; und ich, abergläubisch wie alle einsamen Menschen, die an einer Wende ihrer Straße stehen, glaubte einen Adler gesehn zu haben. Nun bemüht sich alle Welt darum, mir zu beweisen, daß ich mich irre, — und es giebt einen artigen europäischen Klatsch darüber. Wer ist nun der Glücklichere —ich, „der Getäuschte“, wie man sagt, der einen ganzen Sommer ob dieses Vogelzeichens in einer höheren Welt der Hoffnung lebte — oder jene, welche „nicht zu täuschen“ sind? — Und so weiter. Amen.
Gestern, alter Freund, überfiel mich der Dämon der Musik — „stellen Sie sich mein Entsetzen für!“ mit Lessing zu reden. Mein gegenwärtiger Zustand „in media vita“ will auch noch in Tönen sich aussprechen: ich werde nicht loskommen.
Und es ist recht so: bevor ich meine neue Straße ziehe, muß ich noch ein wenig blasen und geigen.
Wien ist vom Horizonte fast verschwunden. Vielleicht München — dabei erwäge ich auch meine Beziehungen zu Levi.
Ich wollte doch, Sie wären in Bayreuth gewesen: man rühmt W<agner>s Instrumentation des Parsifal als das Erstaunlichste in dieser Kunst.
Wann giebt es für mich Ihre Musik! — Jetzt bin ich „ein wenig in der „Wüste“ und schlafe manche Nacht nicht. Aber nichts von Kleinmuth! Und jener erwähnte Dämon war, wie Alles, was mir jetzt über den Weg läuft (oder zu laufen scheint) heroisch-idyllisch.
Adieu, lieber Freund!
Von Herzen
F. N.