1882, Briefe 185–366
251. An Lou von Salomé in Stibbe
<Tautenburg, 27./28. Juni 1882>
Liebe Freundin
wie freue ich mich, vom guten Schiffe zu hören, daß es in den guten Hafen eingelaufen ist! Augenblicklich werden wir Alle Drei zu den zufriedensten Menschen gehören, die es giebt. Dieses Tautenburg entzückt mich und paßt zu mir in allem und jedem; und nochmals fühle ich mich in diesem wunderbaren Jahre durch ein unerwartetes Geschenk des Schicksals überrascht. Für meine Augen und meine einsamen Neigungen ist hier das Paradies; ich verstehe den Wink, daß die Zeit meiner Südländerei vorüber ist; die Reise von Messina bis Grunewald war ein dicker Strich unter diese Vergangenheit.
Inzwischen habe ich alles, was Sie betrifft, meiner Schwester mitgetheilt. Ich fand sie, in der langen Trennungszeit, so gut fortgeschritten und ausgewachsener als früher, alles Vertrauens würdig und sehr liebevoll gegen mich. Ihre eigenen Pläne für den Winter sind inzwischen festgestellt (sie geht nach Genua, in meine dortige Wohnung, später nach Rom); meine Besorgniß, dieselben möchten sich mit meinen Wiener Plänen kreuzen, ist damit gehoben. Übrigens hat sie jetzt ihre eignen Neigungen zur Abgezogenheit und „Unbeeinflußtheit“ — und so glaube ich in summa, daß Sie es mit ihr und uns versuchen dürfen. — Aber meine ganze Stillschweigerei war nicht nöthig, werden Sie jetzt meinen? Ich analysirte sie heute und fand als letzten Grund: Mißtrauen gegen mich selber. Ich bin nämlich durch das Ereigniß, einen „neuen Menschen“ hinzuerworben zu haben, förmlich über den Haufen geworfen worden — in Folge einer allzustrengen Einsamkeit und Verzichtleistung auf alle Liebe und Freundschaft. Ich mußte schweigen, weil mich von Ihnen zu reden jedesmal umgeworfen hätte (es passirte mir bei den guten Overbecks) Nun, das erzähle ich Ihnen zum Lachen. Es geht bei mir immer sehr menschlich-allzumenschlich zu und meine Thorheit wächst mit meiner Weisheit.
Dies erinnert mich an meine „fröhliche Wissenschaft.“ Donnerstag kommt der erste Correcturbogen, und Sonnabend soll der letzte Theil des M<anu>s<cripts> in die Druckerei abgehen. Ich bin jetzt immer von sehr feinen Sprachdingen occupirt; die letzte Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten „Hören“ von Wort und Satz. Die Bildhauer nennen diese letzte Arbeit „ad unguem.“ — Mit diesem Buche kommt jene Reihe von Schriften zum Abschluß, die mit „Menschl<ichem,> Allzum<enschlichem>“ beginnt: in allen zusammen soll „ein neues Bild und Ideal des Freigeistes“ aufgerichtet sein.
Daß dies nun freilich nicht „der freie Mensch der That“ ist, werden Sie längst errathen haben. Vielmehr — doch hier will ich schließen und lachen. Von Herzen Ihnen
und Freund Rée zugethan F.N.