1882, Briefe 185–366
195. An Heinrich Köselitz in Venedig
Genova den 5ten Februar <1882>
Mein lieber Freund, ich finde Ihre Behandlung des Bülow’schen Falles ganz angemessen — ich glaube, Bülow selber wird sie angemessen finden; er ist liberaler Impulse fähig. — Gestern kam Dr. Rée an; er wohnt im Nachbarhause und bleibt einen Monat. Heute Abend werden wir Beide zusammen im Theater Carlo Felice sitzen, um Sarah Bernhardt zu bewundern, als la dame aux camelia’s (Dumas fils). Die Schreibmaschine (eine Sache von 500 frs.) ist hier, aber — mit einem Reise-Schaden: vielleicht muß sie wieder zur Reparatur nach Kopenhagen, heute werde ich von dem ersten hiesigen Mechaniker darüber Bescheid erhalten. —
Gersdorff glaubt, daß eine Aufführung von Scherz L<ist> und Rache in Leipzig zu ermöglichen ist — erzählt Rée. — Nerina hat die Verlobung G<ersdorffs>’s ziemlich tragisch genommen und macht dem Armen Noth. —
Wie? Sie gehen zuletzt nicht nach Bayreuth? — Ich empfinde bei dieser Möglichkeit zu verschieden auf Ein Mal, um sagen zu können, wie es mich berührt. Aber es scheint mir nicht nützlich — und sei es auch nur, daß Sie Wagner’s Orchester und seine Orchester-Erfindungen kennen lernen müßten. Zuletzt: ich wüßte Sie sehr gerne einmal unter allen meinen Freunden, die, wie ich mir vorstelle, an Ihnen versuchen werden gut zu machen, was sie in Bezug auf mich auf dem „lieben Herzen“ haben — Pardon, daß ich davon rede!
„Causalitäts-Sinn“ — ja, Freund, das ist etwas Anderes als jener „Begriff a priori“ von dem ich rede (oder fasele!) Woher kommt der unbedingte Glaube an die Allgültigkeit und All-Anwendbarkeit jenes Causalitäts-Sinnes? Leute wie Spencer meinen, es sei eine Erweiterung auf Grund zahlloser durch viele Geschlechter gemachter Erfahrungen, eine zuletzt absolut auftretende Induktion. Ich meine, dieser Glaube sei ein Rest eines älteren viel engeren Glaubens. Doch wozu dies! Ich darf über so etwas nicht schreiben, mein lieber Freund, und muß Sie auf das „9te Buch“ der M<orgenröthe> verweisen, damit Sie sehen, daß ich am wenigsten von den Gedanken abweiche, welche Ihr Brief mir darlegt: — ich freute mich dieser Gedanken und unsrer Übereinstimmung.
Das neue „Journal“ hat mich gar nicht unangenehm überrascht. Oder täusche ich mich? Ist dieser Grundgedanke seiner Einleitung — das Europäer-thum mit der Perspektive der Vernichtung der Nationalitäten — ist dies nicht mein Gedanke? Sagen Sie mir darüber die Wahrheit: vielleicht führt mich irgend welche Spiegelfechterei der Eitelkeit irre. —
Neulich gehe ich spazieren und denke an gar nichts unterwegs als an die Musik meines Freundes Gustav Krug, — rein zufällig und ohne alle Veranlassung. Den Tag darauf kommt ein Heft Lieder von ihm mir zu Händen (von Kahnt verlegt) und darunter gerade das Lied, welches ich auf meinem Spaziergang mir reconstruirt hatte. Wunderlichstes Spiel des Zufalls!
Wetter nach wie vor, unbeschreiblich! Rée und ich waren gestern an jener Stelle der Küste, wo man mir in hundert Jahren (oder 500 oder 1000, wie Sie gütigst annehmen!) ein Säulchen zu Ehren der „Morgenröthe“ aufstellen wird. Wir lagen fröhlich wie zwei Seeigel in der Sonne.
Mit den herzlichsten Grüßen Ihr getreuer Seelen-Nachbar
F.Nietzsche.