1882, Briefe 185–366
209. An Heinrich Köselitz in Venedig (Typoskript)
<Genua, 15. März 1882>
Mein lieber armer Freund, hier ein Liedchen zu unsrer Erheiterung: wir haben sie Beide so nöthig. Nun Sie gar noch anfangen, an Sich selber zu leiden, hat das Übel seinen Höhepunkt erreicht. Jetzt heisst es: sauve qui peut! Es ist unerträglich, Sie vor meinen Augen zu Grunde gehen zu sehn —: haben Sie doch darin ein Wenig Mitleiden mit mir! Zuletzt habe ich’s gerade so schlimm und thöricht getrieben wie Sie: unsre bürgerlichen Tugenden und Vorurtheile sind unsre Hauptgefahren — zum Beispiel dieser inhumane Fleiss. Wollen Sie meinen Zustand kennen lernen? Zur Strafe für die unsinnige Thätigkeit meiner ersten Basler Jahre kann ich jetzt nicht mehr die kleinste geistige Arbeit thun ohne einen Gewissensbiss —: ich empfinde jedesmal: „das ist nicht recht, du darfst nicht mehr arbeiten!“ Ihre Worte in Betreff der Augen haben mir mehr wehe gethan als irgend Etwas seit Jahren. Lassen Sie diese Partitur, jetzt und sofort! Die ganze Aufgabe Ihres Lebens tritt vor Sie hin und sagt: „So will es die Pflicht“! Die nächsten Monate müssen ganz der Genesung geweiht sein: Leib und Seele bitten und beschwören Sie darum — ich auch! Wieviel Geld brauchen Sie für drei Monate in den Bergen? Es steht Ihnen zu Gebote. Seien Sie grossmüthig gegen mich — gegen Sich! In Treue
Ihr Freund
F. N.
Lied von der kleinen Brigg genannt „Das Engelchen“.
Engelchen: so nennt man mich —
Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen
Ach noch immer sehr ein Mädchen:
Denn es dreht um Liebe sich
Stets mein feines Steuerrädchen.
Engelchen: so nennt man mich —
Bin geschmückt mit hundert Fähnchen,
Und das schönste Kapitänchen
Bläht an meinem Steuer sich:
Als das hunderterste Fähnchen.
Engelchen: so nennt man mich —
Überall hin, wo ein Flämmchen
Für mich glüht, lauf’ ich, ein Lämmchen,
Meinen Lauf sehnsüchtiglich:
Immer war ich solch ein Lämmchen:
Engelchen: so nennt man mich —
Glaubt ihr wohl, dass wie ein Hündchen
Belln ich kann und dass mein Mündchen
Dampf und Feuer wirft um sich?
Ach, des Teufels ist mein Mündchen:
Engelchen: so nennt man mich —
Sprach ein bitterböses Wörtchen
Einst, dass schnell zum letzten Örtchen
Mein geliebter Freund entwich:
Ja, er starb an diesem Wörtchen.
Engelchen: so nennt man mich —
Kaum gehört, sprang ich vom Klippchen
In den Grund und brach ein Rippchen.
Dass die Seele mir entwich:
Ja, sie wich durch dieses Rippchen.
Engelchen: so nennt man mich —
Meine Seele wie ein Kätzchen
That eins zwei drei vier fünf Sätzchen,
Schwang dann in dies Schiffchen sich:
Ja, sie hat geschwinde Tätzchen.
Engelchen: so nennt man mich —
Jetzt ein Schiff, dereinst ein Mädchen:
Ach, noch immer sehr ein Mädchen:
Denn es dreht um Liebe sich
Stets mein feines Steuerrädchen.
Engelchen: so nennt man mich.