1882, Briefe 185–366
307. An Heinrich Köselitz in Venedig
Leipzig, <16. September 1882>Auenstraße 26, 2te Etage
Endlich, liebster Freund, habe ich Etwas von Ihrer Musik zu hören bekommen; ich mußte, um dies zu ermöglichen, nach Leipzig übersiedeln, und auch hier fand sich nicht gleich der Vermittler. Genug, gestern Nachmittag haben wir, nämlich der alte Riedel (der Präsident des deutschen Musikvereins, der ein Paar Tage lang sich mit dem ganzen Klavierauszuge vertraut zu machen gesucht hatte) und ich, über dieser „Musik für Italiäner“ gehockt, und dies mit einer herzlichen Bewunderung für deren Urheber. (In Bezug auf Sie, — Name, Person, Vergangenheit — war ich natürlich von der äußersten Vorsicht: kaum, daß R<iedel> weiß, daß der Componist ein Deutscher ist.) Es ist Alles so fertig und meisterlich; R<iedel> sagte alle Augenblicke „fein“, „sehr fein“, namentlich im Harmonischen. Was das Melodische betrifft, so war nicht Jegliches nach seinem Geschmack (er ist gerade in ein höchst contrapunktisches Requiem von Dräseke verliebt —)
Ich selber, theurer Freund, bin langsam in der Liebe, haben Sie darin Geduld mit mir! Um Etwas zu nennen, was mir sehr einleuchtete: Ouvertüre zweite Hälfte der zweiten Seite, namentlich von dem legatissimo an. — Ihr Stil hat an symphonischer Breite gewonnen, und zwar im tempo allegro und vor allem in der allegria selber: worin jetzt die Besten keinen Athem haben. — Ihr Recitativ ist voller Musik, und weder trocken, noch besoffen — eine gewisse italiänische Abneigung gegen die deutsche Gefühls-Trunksucht fällt mir überhaupt auf. — Zuletzt möchte ich doch glauben, diese Musik sei italiänische Musik für Deutsche, sogar für Wagnerianer. Man genießt dabei das Glück der zweiten Unschuld.
Nichts wäre leichter als hier in diesem Winter Ihr „Sch<erz>, L<ist> und R<ache>“ zur Aufführung zu bringen. Der Unternehmer, der ehemals berühmte Stägemann, sucht nach einer Novität und findet nichts, der Kapellmeister Hr. Nikisch wird mir von allen Seiten gepriesen als großer Dirigent, als feinsinniger und neuerungslustiger Musiker, der für Ihr Werk mit Passion thätig sein würde. Es ist ein Augenblick, wo die Küche heiß ist, man brauchte die Schüssel nur hineinzuschieben. Aber ich weiß gar nichts vom Schicksale und Aufenthalte Ihres Werkes. Auch ich, beiläufig gesagt, wurde beim Anhören Ihrer Musik, etwas begehrlich nach der italiänischen „Sentimentalität“. In Messina, wo ich die Luft Bellini’s athmete (Catania ist sein Geburtsort) verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange aushält (Meine Idyllen aus Messina sind nach diesem Recepte componirt.)
Auch der Musikverleger Fritzsch ist von ganzem Herzen bereit, einer Leipziger Aufführung eines Ihrer Werke sich zu widmen; Nikisch ist eng mit ihm befreundet. —
Aus Ihren beiden letzten Briefen entnahm ich, — oder witterte ich? daß es irgend eine ungeheure Differenz zwischen uns giebt — nun, gar nichts Persönliches, alter lieber Freund, sondern etwas, das mit Zweck, Ziel und Erträglichkeit des Lebens zu thun hat. Nehmen Sie an, daß jenes Lebens-Gebet (kann ich’s wieder haben?) ein Commentar zur „fröhlichen Wissenschaft“ ist (eine Art Baß dazu). — Das Lied selber ist übrigens von Lou, sie gab es mir beim Abschied von Tautenburg (wo wir drei Wochen zusammen waren.)
Ich bleibe noch bis Ende des Monats hier. Romundt übernimmt eine Farben-Fabrik. Gersdorff schrieb mit Liebe von Ihnen, er scheint verlegen zu sein als Urheber des Weimarischen Plans. Von seiner Frau rühmt er „Schönheit Reinheit und Vernünftigkeit, welche ein sehr liebliches Wesen zusammen ausmachten“. — Jak<ob> Burckhardt will, daß ich „Professor der Weltgeschichte“ werde; ich lege seinen Brief bei.
Ihre Musik geht also weiter an Overbecks? Inzwischen aber will ich mich noch in diese Sonne setzen — ah, Freund, könnte ich Ihnen sagen, welche fünffache Finsterniß mich umhüllen will, und welchen Widerstand ich zu leisten habe. — Vermeiden Sie die Menschen! Unser Einer ist ein Glas, welches zu leicht einen Sprung bekommt — und dann ist es aus.
Ganz von Herzen
Ihr Freund F.N.
Neueste Nachricht: den 2. Oktober kommt L<ou>) hierher; ein Paar Wochen später reisen wir ab — nach Paris, und dort bleiben wir, vielleicht Jahre lang. — Mein Vorschlag.