1882, Briefe 185–366
243. An Lou von Salomé in Stibbe
Sonntag.<Naumburg, 18. Juni 1882>
Liebe Freundin
Also: ich habe eine kleine anscheinend sehr thörichte Reise nach Berlin gemacht, bei der mir Alles mißrieth; Tags darauf fuhr ich zurück, über den Grunewald und mich selber etwas aufgeklärter als sonst — ein wenig hohnlachend und sehr erschöpft. —
Heute aber bin ich schon ganz wieder in meine fatalistische „Gott-Ergebenheit“ zurückverfallen und glaube von Neuem, daß mir Alles zum Besten gereichen muß sogar diese Berliner Reise und ihre Quintessenz (ich meine das Faktum, daß ich Sie nicht gesehen habe)
Ich möchte so gerne bald mit Ihnen etwas arbeiten und studiren und habe schöne Dinge vorbereitet — Gebiete, in denen Quellen zu entdecken sind, vorausgesetzt daß Ihre Augen gerade da Quellen entdecken wollen (— die meinen sind nicht mehr frisch genug dazu!) Sie wissen doch, daß ich wünsche, Ihr Lehrer zu sein, Ihr Wegweiser auf dem Wege zur wissenschaftlichen Produktion? —
Was denken Sie über die Zeit nach Bayreuth? Was wäre Ihnen das Erwünschteste, Zuträglichste und Erstrebenswertheste eben für diesen Zeitraum? — Und ist für den Beginn unsrer Wiener Existenz der September ins Auge zu fassen?
Meine Reise belehrte mich wieder über mein unsägliches Ungeschick, sobald ich neue Orte und Menschen um mich fühle —: ich glaube, die Blinden sind zuversichtlicher als die Halb-Blinden. Mein Wunsch in Betreff Wiens ist jetzt, wie ein Paquetstück in ein Zimmerchen des Hauses abgesetzt zu werden, in welchem Sie wohnen wollen. Oder im Hause nebenan, als
Ihr getreuer Freund und
Nachbar F.N.