1882, Briefe 185–366
194. An Franziska Nietzsche in Naumburg
Genua Ende <30.> Januar 1882.
Meine liebe Mutter, so laufen die Jahre dahin, eines immer schneller als das andre. Man lernt eben das Spiel des Lebens endlich auswendig — man bekommt es, wie die Klavierspieler sagen, zuletzt „in die Finger“; deshalb geht es so geschwinde! Das merke ich schon: um wie viel mehr wirst Du es merken! Und ebenso wenig wie mir, wird Dir an Deinem Geburtstage mit Wünschen gedient sein; festhalten, was man hat, ist das Haupt-Kunststück des späteren Lebens, und wissen, was man voraus hat vor so Vielen, und namentlich vor allen Unzufriednen! Das Jahr macht Dir ein heiteres Gesicht: sehen wir zu, daß auch wir Dir Grund zur Heiterkeit und zum Wohlgefühle des Lebens geben! Gleich diesem schönsten aller Januare! —
Hier ist es immer wie im Frühling: man kann schon des Vormittags im Freien sitzen, und zwar im Schatten — ohne zu frieren. Kein Wind, keine Wolke, kein Regen! Ein Greis sagte mir, es habe noch nie einen solchen Winter in Genua gegeben. Das Meer still und tief gesunken. Die Pfirsiche blühen! — Giebt es freilich einen Nach-Winter, so ist es mit den Oelbäumen und dem ganzen Obste schlimmer als je! — Ich sehe die Soldaten im leichtesten Leinen-Anzuge; ich selber habe auf meinen Spaziergängen dieselben Kleider an, wie im Engadiner Sommer, mit dessen guten Tagen das jetzige Wetter verwandt ist. Aber freilich: das mir schädliche Wetter war bei meinem letzten Aufenthalte da oben so überwiegend, und das Ganze in summa eine solche Geduldsprobe, daß ich dieses Jahr mir das Engadin verbiete. —
Trotz diesem Wetter ist mein Befinden sehr variabel gewesen; und es hätte mir viel besser gehen müssen, wenn ich nicht auch in diesem Winter etwas zu arbeiten gehabt hätte. Und eine regelmäßige geistige Arbeit Tag für Tag zu bestimmten Stunden ist immer noch das sicherste Mittel, mich unvermerkt zu Grunde zu richten. „Unvermerkt“ — das heißt, es kommt ein Tag, wo ich merke, daß es sehr schlimm steht, und wo die Erholung nicht mehr in einigen Ruhetagen geschafft werden kann. - - - Zu alledem bin ich seit October vielen Zahnschmerzen unterworfen gewesen — es giebt etwa 6 hohle Zähne, und das Wort „Zahnoperationen“ hat mich mit Neid erfüllt. Vielleicht muß ich mich schließlich doch entschließen, nach Florenz zu Dr. van Marter zu reisen, der mich schon einmal unter den Händen gehabt hat. — Neuerdings bin ich mit einem anderen Leiden bekannt geworden, das seine eigene Unannehmlichkeit hat; mich quält jetzt ein Blasen-Leiden und will nicht vor mir weichen. Kurz, Du siehst, es ist noch manches von mir auszuhalten, und ich habe guten Muth nöthig, der sich nicht so leicht auf dem nächsten Markte kaufen läßt.
So! Mehr darf ich für diesen Tag nicht schreiben, die Augen schmerzen schon. — — Ich erwarte mit großem Verlangen die Ankunft des Dr. Rée — er wird gerade in dem Carneval hineinkommen, der diesmal den Besuch der berühmten Französin Sarah Bernhardt bietet. Wir werden 3 Tage (am 5ten, 6ten und 7ten Februar) französisches Schauspiel haben, in unserm großen Carlo-Felice-Theater, welches 3000 Menschen faßt — und es wird voll sein. —
Nochmals, meine liebe gute Mutter, ich will zusehen, daß Du in diesem Deinem neuen Jahre durch mich keine neue Noth hast — bei der alten wird es wohl verbleiben! —
Von Herzen Dein Sohn
Friedrich.
Nicht wahr, ich erfahre genau die Stunde der Ankunft meines Freundes, daß ich am Bahnhof sein kann? Will er einen Monat hier bleiben und soll ich darauf hin miethen? — Salita delle Battistine 8, interno 6 ist die Adresse.