1882, Briefe 185–366
335. An Lou von Salomé, vermutlich in Berlin
Santa Margherita Ligure (Italia) <verm. 24. November 1882>
Meine liebe Lou,
gestern habe ich den beifolgenden Brief an Rée geschrieben: und eben war ich unterwegs, ihn zur Post zu tragen — da fiel mir etwas ein, und so habe ich das Couvert wieder abgerissen. Dieser Brief, der Sie allein betrifft, würde R<ée> vielleicht mehr Schwierigkeit machen als Ihnen; kurz, lesen Sie ihn, es soll ganz in Ihrer Hand stehen, ob R<ée> ihn auch lesen soll. Nehmen Sie dies als ein Zeichen des Vertrauens, meines reinsten Willens zum Vertrauen zwischen uns!
Und nun, Lou, liebes Herz, schaffen Sie reinen Himmel! Ich will nichts mehr, in allen Stücken als reinen hellen Himmel: sonst will ich mich schon durchschlagen, so hart es auch geht. Aber ein Einsamer leidet fürchterlich an einem Verdachte über die Paar Menschen, die er liebt — namentlich wenn es der Verdacht über einen Verdacht ist, den sie gegen sein ganzes Wesen haben. Warum fehlte bisher unserm Verkehre alle Heiterkeit? Weil ich mir zu viel Gewalt anthun mußte: die Wolke an unsrem Horizonte lag auf mir!
Sie wissen vielleicht, wie unerträglich mir alles Beschämenwollen, alles Anklagen und Sich-Vertheidigen-müssen ist. Man thut viel Unrecht, unvermeidlich — aber man hat ja auch die herrliche Gegenkraft, wohlzuthun, Frieden und Freude zu schaffen.
Ich fühle jede Regung der höheren Seele in Ihnen, ich liebe nichts an Ihnen als diese Regungen. Ich verzichte gerne auf alle Vertraulichkeit und Nähe, wenn ich nur dessen sicher sein darf: daß wir uns dort einig fühlen, wohin die gemeinen Seelen nicht gelangen.
Ich spreche dunkel? Habe ich erst das Vertrauen, so sollen Sie schon erleben, daß ich auch die Worte habe. Bisher habe ich immer schweigen müssen.
Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniß! Ich schätze nichts als Antriebe — und ich möchte darauf schwören, daß wir darin etwas Gemeinsames haben. Sehen Sie doch durch diese Phase hindurch, in der ich seit einigen Jahren gelebt habe — sehen Sie dahinter! Lassen Sie sich nicht über mich täuschen — Sie glauben doch nicht, daß „der Freigeist“ mein Ideal ist?! Ich bin —
Verzeihung! Liebste Lou!, seien Sie, was Sie sein müssen.
F.N.