1882, Briefe 185–366
355. An Lou von Salomé vermutlich in Berlin (Entwurf)
<Rapallo, Mitte Dezember 1882>
M<eine> l<iebe> L<ou> schreiben Sie mir doch nicht solche Briefe! Was habe ich mit diesen Armseligkeiten zu thun! Bemerken Sie doch: ich wünsche daß Sie sich vor mir erheben damit ich Sie nicht verachten muß.
Aber L<ou> was schreiben Sie denn für Briefe! So schreiben ja kleine rachsüchtige Schulmädchen. Was habe ich mit diesen Erbärmlichkeiten zu thun! Verstehen Sie doch: ich will, daß Sie sich vor mir erheben, nicht daß Sie sich noch verkleinern.
Wie kann ich Ihnen denn vergeben, wenn ich nicht erst das Wesen wieder an Ihnen entdecke, um dessentwillen Ihnen überhaupt vergeben werden kann!
Nein m<eine> l<iebe> L<ou> wir sind noch lange nicht beim „Verzeihen“. Ich kann das Verzeihen nicht aus den Ärmeln schütteln, nachdem die Kränkung 4 Monate Zeit hatte, in mich hineinzukriechen.
Adieu m<eine> l<iebe> L<ou> ich werde Sie nicht wiedersehen. Bewahren Sie Ihre Seele vor ähnl<ichen> Handl<ungen> und machen Sie an Andern und namentl<ich> an meinem Fr<eund> Rée gut, was Sie an mir nicht mehr gut machen können.
Ich habe die Welt und L<ou> nicht geschaffen: ich möchte, ich hätte es gethan — dann würde ich alle Schuld daran allein tragen können, daß es so zwischen uns gekommen ist.
Adieu l<iebe> L<ou> ich las Ihren Brief noch nicht zu Ende, aber ich las schon zuviel.