1882, Briefe 185–366
286. An Theodor Curti in Zürich
<Tautenburg, Juli/August 1882>
Hochgeehrter Herr,
man hat mir gesagt, daß Sie in einem auszeichnenden Grade mehreren meiner Ansichten Ihre Theilnahme zugewendet hätten; und obwohl ich grundsätzlich mich über alles das, was man „Wirkung“ zu nennen pflegt, in tiefster Unwissenheit erhalte, so möchte ich doch gerne in diesem Falle eine Ausnahme machen — einmal in Hinsicht auf das, was ich von dem Charakter, der Unabhängigkeit und dem Geiste dessen hörte, an den zu schreiben ich die Ehre habe (— Jakob Burckhardt war es, der mir von Ihnen sprach), sodann, weil es mich ganz und gar überrascht, daß meine politisch-sozialen Maienkäfer die ernsthafte Theilnahme eines politisch-sozialen Denkers erregt haben. Es kann kein Mensch in Bezug auf diese Dinge mehr „im Winkel leben“ als ich: ich spreche nie von dergleichen, ich weiß die bekanntesten Ereignisse nicht und lese nicht einmal die Zeitungen — ja ich habe mir aus dem Allem ein Privilegium gemacht! — Und so wäre ich denn gerade in diesem Punkte gar nicht böse, wenn ich mit meinen Ansichten Lachen und Heiterkeit erregt hätte: aber Ernst? Und bei Ihnen? Könnte ich das nicht zu lesen bekommen?
Zufällig höre ich, daß der jüngst verstorbene Bruno Bauer in seinen alten Tagen sich auch dies und jenes aus meinen Gedanken über das bezeichnete Gebiet herausgeholt habe. Ein paar ähnliche Mittheilungen kamen noch hinzu: sodaß ich neugierig über mich selber geworden bin.
Verzeihung, verehrter Herr! Sie sind jetzt das Opfer dieser Neugierde!
Mit ergebenstem Gruß
der Ihrige
Prof.Dr. F. Nietzsche
Adresse: „Tautenburg bei Dornburg“
(Thüringen)