1882, Briefe 185–366
210. An Franz Overbeck in Basel (Typoskript)
<Genua, 17. März 1882>
Lieber Freund, wahrscheinlich ist Deine Geldsendung schon auf der hiesigen Post: sie hat mir die Ankunft eines recommandirten Briefes gemeldet. Heute bitte ich Dich, die übrigen 250 Francs an Herrn Köselitz zu senden — mit einem Vermerk dass sie von mir kommen. Der Frühling ist hinter uns: wir haben Sommer-Wärme und Sommer-Helligkeit. Es ist die Zeit meiner Verzweiflung. Wohin? wohin? wohin? Ich verlasse so ungern das Meer. Ich fürchte die Berge und alles Binnenländische — aber ich muss fort. Was für Anfälle habe ich wieder hinter mir! Die ungeheuren Mengen Galle, welche ich jetzt immer ausbreche, erregen mein Interesse. Ein Bericht des Berliner Tageblattes über meine Genueser Existenz hat mir Spaass gemacht — sogar die Schreibmaschine war nicht vergessen. Diese Maschine ist delicat wie ein kleiner Hund und macht viel Noth — und einige Unterhaltung. Nun müssen mir meine Freunde noch eine Vorlese-Maschine erfinden: sonst bleibe ich hinter mir selber zurück und kann mich nicht mehr genügend geistig ernähren. Oder vielmehr: ich brauche einen jungen Menschen in meiner Nähe, der intelligent und unterrichtet genug ist, um mit mir arbeiten zu können. Selbst eine zweijährige Ehe würde ich zu diesem Zwecke eingehen — für welchen Fall freilich ein paar andere Bedingungen in Betracht zu ziehen wären. — Rohde hat geschrieben —: ich glaube nicht dass das Bild, welches er sich von mir macht, richtig ist; doch bin ich nicht übel zufrieden damit, dass dies Bild nicht noch viel falscher ist. Aber er ist ausser Stande, etwas von mir zu lernen — er hat kein Mitgefühl für meine Leidenschaft und Leiden. — In Berlin habe ich einen wunderlichen Apostel: denke Dir, dass der Dr. B. Förster in seinen öffentlichen Vorträgen mich in sehr emphatischen Ausdrücken seinen Zuhörern präsentirt. — Rée ist jetzt in Rom: Ende April geht er nach der Schweiz zu seiner Mutter. Er freut sich sehr auf einen Tag in Basel und sendet seine Grüsse voraus.
Lebe wohl, mein lieber Freund — ich bin immer Dein und Euer dankbar ergebener
F.N.