1882, Briefe 185–366
244. An Heinrich Köselitz in Venedig
Naumburg an der Saale. <19.> Juni 1882.
Mein lieber alter Freund, ein seltsames Jahr! Ganz äußerlich schon sieht es närrisch genug aus: denken Sie, daß ich von Messina nach dem Berliner Grunewalde gereist bin, der mir als Aufenthalt für den Sommer von einem schweizerischen Forstmann empfohlen wurde. Ich fand freilich hier nicht, was ich suchte — und bin jetzt wieder in Naumburg. Inzwischen ist aber allerlei Wesentliches geschehen oder vorbereitet — und ich sehe mit Staunen dem sonderbaren Würfelspiele zu und warte und warte. Denn es muß mir Alles zum Besten gereichen: ich lebe ganz in einer fatalistischen „Gott-Ergebenheit“. — Genaueres läßt sich nicht schreiben.
Heute frage ich an, ob Sie mir bei der Correktur der „fröhlichen Wissenschaft“ — meines letzten Buches, wie ich annehme — helfen können (vom „Wollen“ rede ich nicht, mein alter Getreuer!) Aufrichtigkeit bis zum Tod! Nichtwahr?
Die Quälerei der M<anu>s<cript>-Herstellung, mit Hülfe eines banquerotten alten Kaufmanns und Esels, war außerordentlich: ich habe es verschworen, dergleichen nochmals über mich ergehen zu lassen.
Ich habe zehnmal auch dieses Buch für unedirbar gehalten und zehnmal wieder mich von diesem Glauben bekehrt. Jetzt denke ich so: es liegt gar nichts daran, was meine jetzigen Leser über dieses Buch und über mich denken, — aber es liegt etwas daran, daß ich so von mir gedacht habe, wie in diesem Buche zu lesen ist: sei es auch nur, um vor mir selber zu warnen.
Vom Herbste an beginne ich eine neue Studenten-Zeit: ich gehe an die Universität Wien.
Kommen Sie nach Wien? Ach, ich kann es Ihnen nicht sagen, wie ich es entbehre, Sie nicht um mich zu haben.
Die Einsiedelei des Lebens ist gar zu groß und wird immer größer. —
Und Ihre Musik! In Basel ließ ich mir drei Mal Ihr „Nacht du holde“ vorspielen — und hatte lange, lange nicht genug. Und ebenso jene allerfröhlichsten 8 Takte
Adieu, mein lieber Freund!
F.N.