1882, Briefe 185–366
256. An Lou von Salomé in Stibbe
Tautenburg bei Dornburg Thüringen. <3. Juli 1882>
Meine liebe Freundin,
Nun ist der Himmel über mir hell! Gestern Mittags gieng es bei mir zu wie als ob Geburtstag wäre: Sie sandten Ihre Zusage, das schönste Geschenk, das mir jetzt Jemand hätte machen können — meine Schwester sandte Kirschen, Teubner sandte die drei ersten Druckbogen der „fröhlichen Wissenschaft“; und zu alledem war gerade der allerletzte Theil des Manuscriptes fertig geworden und damit das Werk von 6 Jahren (1876—1882), meine ganze „Freigeisterei“! Oh welche Jahre! Welche Qualen aller Art, welche Vereinsamungen und Lebens-Überdrüsse! Und gegen Alles das, gleichsam gegen Tod und Leben, habe ich mir diese meine Arznei gebraut, diese meine Gedanken mit ihrem kleinen kleinen Streifen unbewölkten Himmels über sich: — oh liebe Freundin, so oft ich an das Alles denke, bin ich erschüttert und gerührt und weiß nicht, wie das doch hat gelingen können: Selbst-Mitleid und das Gefühl des Sieges erfüllen mich ganz. Denn es ist ein Sieg, und ein vollständiger — denn sogar meine Gesundheit des Leibes ist wieder, ich weiß nicht woher, zum Vorschein gekommen, und Jedermann sagt mir, ich sähe jünger aus als je. Der Himmel behüte mich vor Thorheiten! — Aber von jetzt ab, wo Sie mich berathen werden, werde ich gut berathen sein und brauche mich nicht zu fürchten. —
Was den Winter betrifft, so habe ich ernstlich und ausschließlich an Wien gedacht: die Winterpläne meiner Schwester sind ganz unabhängig von den meinigen, es giebt dabei keine Nebengedanken. Der Süden Europa’s ist mir jetzt aus dem Sinn gerückt. Ich will nicht mehr einsam sein und wieder lernen, Mensch zu werden. Ah, an diesem Pensum habe ich fast Alles noch zu lernen! —
Nehmen Sie meinen Dank, liebe Freundin! Es wird Alles gut, wie Sie es gesagt haben.
Unserem Rée das Herzlichste!
Ganz Ihr
F.N.