1882, Briefe 185–366
233. An Ida Overbeck in Basel
Naumburg a/Saale Pfingsten — 1882 <28. Mai>
Verehrte Frau Professor
bei unserem letzten Zusammensein war ich allzu sehr angegriffen: so habe ich Ihnen und meinem Freunde eine Sorge und Beängstigung hinterlassen, zu der eigentlich kein Grund vorliegt; vielmehr Anlaß genug zum Gegentheil! Im Grunde schlägt mir das Schicksal immer zum Glücke und mindestens zum Glücke der Weisheit aus — wie sollte ich mich vor dem Schicksale fürchten, namentlich wenn es mir in der gänzlich unerwarteten Gestalt von L<ou> entgegentritt?
Beachten Sie, daß Rée und ich mit gleichen Empfindungen unsrer tapferen und hochherzigen Freundin zugethan sind — und daß er und ich sehr großes Vertrauen zu einander auch in diesem Punkte haben. Auch gehören wir weder zu den Dümmsten, noch zu den Jüngsten. — Hier habe ich bisher ganz von diesen neuen Dingen geschwiegen. Trotzdem wird dies auf die Dauer unthunlich sein, und zwar schon deshalb, weil meine Schwester und Frau Rée in Verkehr sind. Meine Mutter will ich dagegen „aus dem Spiele“ lassen — sie hat schon genug Sorgen zu tragen — wozu noch unnöthige? —
Fräulein Lou wird diesen Dienstag Nachmittag zu Ihnen kommen (auch das Buch „Schopenhauer als Erzieher“ zurückbringen, welches in der That durch ein Versehen in meinen Koffer gerathen war) Sprechen sie über mich mit jeder Freiheit, verehrte Frau Professor; Sie wissen und errathen ja, was mir, um mein Ziel zu erreichen, am meisten Noth thut — Sie wissen auch, daß ich kein „Mensch der That“ bin und in bedauerlicher Weise hinter meinen besten Absichten zurückbleibe. Auch bin ich, eben wegen des erwähnten Zieles, ein böser böser Egoist — und Freund Rée ist in allen Stücken ein besserer Freund als ich (was Lou nicht glauben will.)
Freund Overbeck darf bei diesem Privatissimum nicht zugegen sein? Nichtwahr? —
Es ging mir inzwischen recht gut; man findet, ich sei in meinem Leben nie so heiter gewesen. Was mag der Grund davon sein?
Treulich dankbar und ganz
der Ihre
F. N.