1882, Briefe 185–366
190. An Heinrich Köselitz in Venedig
<Genua, 25. Januar 1882>
Nun, mein lieber Freund, ich schreibe Ihnen ein paar Zeilchen — am liebsten wäre ich jetzt bei Ihnen. Wirklich, Sie waren in der Gefahr, von mir überrascht zu werden — nichts als die Meldung meiner Angehörigen, daß der längst angekündigte Besuch des Dr. Rée nahe bevorstehe, hat mich hier in Genua zurückgehalten. Was Sie jetzt erleben, das ist die Regel — ich war im vorigen Sommer so erstaunt, so außer mir vor Erstaunen, daß die Dinge in Bezug auf Sie und Ihre Schätzung einmal anders und ausnahmsweise gehen sollten. Aber ich möchte gern Ihnen ein wenig über diese verfluchte „Regelmäßigkeit“ hinweghelfen oder — um die Wahrheit zu sagen — mir von Ihnen darüber hinweghelfen lassen; denn ich bin über dieser Wienerischen Zurückweisung nicht nur böse, sondern beleidigt, ja förmlich krank und aller guten Dinge unfähig geworden. Es klang mir wie ein höhnischer Protest gegen meine eben zu Papier gebrachte friedliche Denkweise und „Gott-Ergebenheit“. Das beste Gegenmittel wäre nun: miteinander etwas zu lachen und gute Musik zu machen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es mich nach Ihrem matr<imonio> segr<eto> gelüstet. An dem Tage, an dessen Abende Ihr Brief anlangte, hatte ich mir überlegt, daß alle nähere Disposition über meine Aufenthalte und alle Eintheilung dieses und des nächsten Jahres von der Musik des Hrn. Peter Gast und vom Schicksale dieser Musik abhänge, — ich erwog einen Winter in Wien und Venedig. Wahrlich, lieber Freund, es giebt so erstaunlich wenig des Guten, das von außen her zu mir käme, ich bin in meiner Einsamkeit wie eingeschneit und lebe so hin, ein wenig allzu verlassen und allzu todt geschätzt, selbst von meinen Freunden. Nur Sie und Ihre Zukunft — Nausikaa eingerechnet —, nur Ihre Briefe und Gedanken sind die schöne Ausnahme in meinem „Winter“, und wahrscheinlich das, was mir am meisten Wärme bringt und erhält.
Ein paar Worte über meine „Litteratur“. Ich bin seit einigen Tagen mit Buch VI, VII und VIII der „Morgenröthe“ fertig, und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und 10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten — ich bin noch nicht reif genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schluß-Büchern darstellen will. Ein Gedanke ist darunter, der in der That „Jahrtausende“ braucht, um etwas zu werden. Woher nehme ich den Muth, ihn auszusprechen!
Heute las ich, zum ersten Male seit letztem Sommer, etwas in meiner „Morgenröthe“ und hatte Vergnügen dabei. In Anbetracht daß diese Dinge sehr abstrakt sind, ist die Munterkeit des Geistes, mit der sie behandelt sind, ganz achtbar. Lesen Sie zur Vergleichung irgend ein Buch über Moral — ich habe immer noch meine Sprünge und Hopsasa’s für mich. Daneben zog mich an, wie reich das Buch an unausgesprochnen Gedanken ist, wenigstens für mich: ich sehe hier und dort und an allen Enden verborgene Thüren, die weiter und oft sehr weit führen (und nicht nur auf „Abtritte“ — Pardon!)
Wollen Sie mein neues Manuscript? Vielleicht macht es Ihnen eine Unterhaltung und Zerstreuung. (Denken Sie ja nicht an’s Abschreiben — das hat noch ein Jahr Zeit und vielleicht sogar sehr viel mehr)
Es fällt mir ein, daß ich das M<anu>s<cript> aber selber noch einmal durchlesen muß, damit Sie es lesen können (Es fehlen viele Zeichen und auch einige Worte) In Anbetracht, daß Gesundheit und Augen mich in Stich lassen, dürfte ich vor 2 Wochen mit dieser Correktur und Durchsicht nicht fertig werden.
Der Januar ist der schönste meines Lebens. Aber er hatte nur 21 Tage! —
Von Herzen Ihr Freund F N.