1882, Briefe 185–366
339. An Paul Rée in Berlin (Entwurf)
<Genua, Anfang Dezember 1882>
Seltsam! Ich habe über L<ou> eine vorgefaßte Meinung: und obwohl ich sagen muß, daß alle meine Erfahrung aus diesem Sommer widerspricht, werde ich diese Meinung nicht los. Eine Reihe von höheren Gefühlen, welche unter M<enschen> sehr selten und sehr auszeichnend sind, müssen in ihr vorhanden sein oder gewesen sein: irgend ein Haupt-Unglück
Eigentlich hat sich Niemand in meinem Leben so häßlich gegen mich benommen wie L<ou>. Bis heute hat sie jene abscheuliche Verunglimpfung meines ganzen Charakters und Willens nicht widerrufen, mit der sie sich in Jena und Tautenb<urg> einführte: und dies obwohl sie weiß, daß es mir in seiner Nachwirkung erheblichen Schaden zugefügt hat (Namentl<ich> in Bezug auf Basel) Wer mit einem Mädchen das solche Dinge sagt, nicht den Verkehr abbricht, der muß ja — ich weiß nicht was sein — so schließt man. Daß ich es nicht that, war die Folge jener vorgefaßten Meinung: übrigens von mir ein gutes Stück Selbstüberwindung.
R<ohde> der mir kürzlich vorgehalten hat, diese meine ganze neuere Denkweise sei ein exc<entrischer> Entschluß nennt mich einen Tausendkünstler der Selbstüberwindung.
Was mir übrigens am schwersten wird, ist, daß ich weder mit Ihnen noch mit Lou noch mit irgend jemandem von dem reden kann, was mir am meisten auf dem Herzen liegt.
Wie ich einen Mann behandeln würde, der so über mich zu meiner Schwester redete, darüber ist gar kein Zweifel. Darin bin ich Soldat und werde es immer sein, ich verstehe mich auf Waffen. Aber ein Mädchen! Und Lou!
sie hat mich in Bayreuth nicht nur im Stich gelassen, sondern geringschätzig behandelt (meine Schwester erzählte 100 Geschichten) — in diesem Punkte bin ich empfindlich, denn daß meine Freunde mein Verhalten gegen W<agner> zu würdigen und mir Recht darin zu schaffen wissen, das gehört für mich zum Begriff „mein Freund“
wer diese Dinge nicht begreift der weiß nichts davon was es heißt „der Erkenntniß Opfer bringen“
Können Sie diese Dinge nicht ins Gleiche bringen? Ich habe nie mit Lou davon sprechen wollen einen einzigen Punkt ausgenommen, von dem Sie wissen.
In der Hauptsache, wollte ich ihr die Freiheit lassen, das Geschehene von sich aus wieder gut zu machen: mir ist alles Erzwungene zwischen 2 Personen gräßlich.
Als ich sie das letzte Mal sah, sagte sie mir, sie habe mir noch etwas mitzutheilen. Ich war voller Hoffnung. (Ich sagte zu meiner S<eele> „Sie hat eine sehr schlechte Meinung von mir aber sie ist klug, sie wird bald eine bessere bekommen“
ich möchte daß die schmerzhafteste Erinnerung dieses Jahres mir von der Seele genommen würde — schmerzhaft nicht, weil sie mich beleidigt sondern weil sie Lou in mir beleidigt.