1882, Briefe 185–366
188. An Ida Overbeck in Basel
Mitte <19.> Januar 1882 Genova
Meine liebe und verehrte Frau Professor, wenn ich zu Ihrem Briefe, mit dem Sie meinem Neujahre einen festlichen Glanz gaben, den letzt angelangten amerikanischen Brief hinzunehme, so muß ich sagen: ich verdanke zweien Frauen den beredtesten Ausdruck dafür, daß meine Gedanken wirklich auch gedacht und bedacht werden und nicht nur gelesen (oder richtiger: „und nicht nur nicht gelesen!“) Jener Brief kam von der Gattin eines Professors des Peabody-Instituts in Baltimore; welche im Namen ihres Mannes und eines Freundes mir dankt, wie Sie mir danken, auf eine denkende Art! Nun, das sind die Ausnahmen, und ich genieße sie ganz als Ausnahmen; die Regel war bisher: keine Wirkung oder eine gedankenlose Wirkung! Sie werden mir es glauben, daß ich deshalb nicht von den Menschen gering denke und daß von allen Mienen mir die Miene des „verkannten Genies“ die lächerlichste dünkt. Eine sehr langsame und lange Bahn wird das Loos meiner Gedanken sein — ja ich glaube, um mich etwas blasphemisch auszudrücken, an mein Leben erst nach dem Tode und an meinen Tod während des Lebens. Und so ist es billig und natürlich! —
Wenn ich Sie wiedersehe, werde ich Ihnen einige curiose Einzelheiten erzählen — heute nur ein Wort über die Möglichkeiten dieses „Wenn-ich-Sie wiedersehe“. Ich bin in Genua durch eine Arbeit gebunden, die hier, nur hier zu Ende kommen kann, weil sie einen Genueser Charakter an sich hat — nun, warum soll ich es Ihnen nicht sagen? Es ist meine „Morgenröthe“, angelegt auf 10 Capitel und nicht nur auf 5; und sehr Vieles, was in der ersten Hälfte steht, ist nur der Unterbau und die Vorbereitung von etwas Schwererem, Höherem (ja! es wird auch manches „Schauderhafte“ noch gesagt werden müssen, liebe Frau Professor!) Kurz, ich weiß nicht, ob ich im Sommer nordwärts fliegen kann: reise ich aber, so komme ich über Basel und zu Ihnen ins Haus.
In Bayreuth werde ich dies Mal durch meine Abwesenheit „glänzen“ — es sei denn, daß Wagner mich noch persönlich einlüde (was nach meinen Begriffen von „höherer Schicklichkeit“ sich recht wohl schicken würde!) Mein Anrecht auf einen Platz will ich ganz schlafen lassen. Im Vertrauen gesagt: ich würde „Scherz List und Rache“ lieber hören als den Parsifal.
Damit Sie wissen, was zwischen Herrn Köselitz und mir vorgeht, und wie ich fortfahre „die Jugend zu verderben“ (— der Schierlingsbecher wird mir wohl nicht entgehen!) so lege ich den letzten Brief des Herrn Köselitz bei: er wird Ihnen vielleicht einige „Verwunderung“ machen, aber ganz gewiß keinen „Schauder“!
Das Wetter der letzten Monate war der Art, daß ich nichts Schöneres und Wohlthätigeres aus meinem ganzen Leben dagegen zu setzen hätte — frisch, rein, mild: wie viele Stunden habe ich am Meere gelegen! Wie viele Male sah ich die Sonne untergehen!
Liebe Frau Professor, „alles Gute ist unter Freunden gemeinsam“ — sagen die Griechen: möge uns*! das Leben noch viele Gemeinsamkeiten schenken! — das dachte ich als ich Ihren Brief las.
Von Herzen Ihnen dankbar und ergeben
Dr. F. Nietzsche.