1882, Briefe 185–366
192. An Franz Overbeck in Basel
Genova, den 29 Januar 1882.
Mein lieber Freund, gestern schrieb mir meine Schwester, daß sie gerne von meinem „Anrecht“ auf einen Platz in Bayreuth Gebrauch machen würde: nun, wenn es nicht zu spät ist, wohlan, so will ich das Formular, von dem Du mir schriebst, unterzeichnen — denn von den Quittungen habe ich nichts mehr. — Übrigens ist es mir lieb, von diesem Entschlüsse meiner Schwester zu hören; ich denke, daß alle meine Freunde dort sein werden, auch Herr Köselitz. Ich selber aber habe Wagner’s zu nahe gestanden, als daß ich ohne eine Art von „Wiederherstellung“ (κατάστασις πάντων ist der kirchliche Ausdruck), als einfacher Festgast dort erscheinen könnte. Zu dieser Wiederherstellung, die natürlich von Wagner selber ausgehen müßte, ist aber keine Aussicht; und ich wünsche sie nicht einmal. Unsere Lebens-Aufgaben sind verschieden; ein persönliches Verhältniß bei dieser Verschiedenheit wäre nur möglich und angenehm, wenn Wagner ein viel delikaterer Mensch wäre. Ich denke, lieber Freund, Du verstehst mich hierin. Jene nun einmal eingetretene Entfremdung hat ihre Vortheile, die ich nicht so leicht, gegen einen Kunstgenuß, oder aus reiner „Gutmüthigkeit“, wieder aufgeben werde. Freilich: ich verliere die einzige Gelegenheit, einmal alle, die mir nahe stehen oder standen, wieder zu sehen, und viele wacklig gewordene Verhältnisse wieder fest zu machen. Da ist Freund Rohde, der mir seit der Übersendung der „Morgenröthe“ kein Wort gegönnt hat, ganz wie Fräulein von Meysenbug und so weiter. Nun, wenn Du mit Deiner lieben Frau dort bist, so bitte ich, für mich bei dem und Jenem ein freundliches Wort einzulegen. Ich bin wahrlich kein „Unmensch“ geworden! —
Gestern sandte ich das neue Manuscript an Hrn. Köselitz nach Venedig ab. Es fehlen noch das 9te und 10te Buch, welche ich jetzt nicht mehr machen kann — es gehört frische Kraft dazu und tiefste Einsamkeit (Dr. Rée kommt in nächster Woche) Vielleicht finde ich einen Monat in diesem Sommer, der mir beides giebt, in irgend einem Walde: ich habe an die Wälder Corsica’s gedacht, aber auch an den Schwarzwald (St. Blasien?) Vielleicht aber muß ich mit dieser schwersten aller meiner Aufgaben bis zum Winter warten.
Inzwischen giebt es böse Neuigkeiten von Hrn. Köselitz. Die Wiener haben die Partitur ihm zurückgeschickt; ein Versuch, den er darauf anstellte, Bülow’s Interesse für sein Werk zu gewinnen, mißlang ebenfalls (er will nichts mehr mit deutscher Opermusik zu thun haben). — Ich bin für Alles unsäglich dankbar, was unserem armen Freunde in dieser schweren Lage wie eine Ermunterung und Genugthuung klingen könnte. — Übrigens ist er Philosoph, mehr als ich. Wahrhaftig, ich selber trage härter an seinem Mißerfolg als er! —
Mein lieber Freund, was mache ich Dir doch immer für Mühe und Noth! — Wenn wir uns wiedersehn, so erweisest Du mir die Ehre mir Deinen Vortrag über die Entstehung der christl. Litteratur vorzulesen? — Habt Ihr auch einen solchen „Frühling“ wie wir? Die wahren „Wunder des heiligen Januarius!“ —
Von Herzen Dein und Euer
Friedrich Nietzsche