1874, Briefe 339–411
411. An Carl von Gersdorff in Ostrichen
Naumburg den 24 Dez. 1874.
Mein lieber getreuer Freund, ich sitze hier zu Naumburg, in heimatlichster Stimmung, gestern kam ich an, schlief gut und heute morgen soll Deiner und der Frauen Wagner gedacht sein. Es gab in den letzten Wochen ein großes Drängen, so daß ich nicht zum Briefschreiben kam, doch ist es mit der Gesundheit gerade noch gegangen, und ich glaube auch, es wird gehen. Die Geschichte des griechischen Epos habe ich in meinem Colleg bis jetzt zu Ende erzählt, da aber die ganze Litteratur der Griechen heran soll, wird sich dies Colleg wohl über 3 Semester hinziehen. Diese Ferien will ich dafür mit aller Litteratur verschont sein, habe aber alle meine Jugendcompositionen um mich gehäuft, daraus soll etwas gebraut werden „dran sich der Lenz erkennen lässt“, ich meine zur Erinnerung, für das Alter. Viel ist mir in den letzten Monaten durch den Kopf gegangen, und ich bin mehrfach wieder unzeitgemäß befruchtet worden, doch wann werde ich wieder Zeit finden? Quaeritur. Am Tage meiner Abreise aus Basel erschien ein Gedicht, verfaßt von dem Übersetzer des Petöfi Th. Opitz; ich lege es gelegentlich einmal bei. Die darin ausgedrückte Wirkung scheint diesmal bei allen meinen ordentlichen Lesern eingetreten zu sein (nur Frau Guerrieri fand sich diesmal „deprimirt“, von der Größe der Aufgabe erschreckt, frauenzimmerlich-zimperlich!); der alte Präsident Turneysen schrieb mir sehr gut, und daß Frau Baumgartner eifrig und glücklich daran übersetzt (bis jetzt bis zu Cap. 5) habe ich Dir wohl erzählt, sie hat viel Übung und Geschmack, aber bei vielen ihrer Sprachbemerkungen danke ich doch dem Himmel ein Deutscher zu sein, ich möchte nichts mit einer so ausgelitzten Sprache wie die französische ist zu thun haben. Unser lieber junger Freund Baumgartner hat mich vorgestern auf die Bahn begleitet bei der Abreise, und zwar angethan mit der Paradepracht eines blauen Husaren, er sieht wohl und reichlicher aus als früher, und ist wirklich sehr gut aufgehoben in seiner Schwadron; der Offizier, der ihn und die Mit-Freiwilligen ausbildet ist Prinz Löwenstein, sein oberster Chef der regierende Reuß. Baumgartner schickt Dir seine besten Grüße, Dein Verwandter Gr<af> Rothkirch ist bei einer andren Schwadron. Mit dem Dr. Fuchs ist wieder Friede und Freundschaft eingetreten, das moralische Kindbettfieber überwunden; denke Dir, daß er sich in Hirschberg (Schlesien) eine neue Heimat gegründet hat; er schreibt kräftig, heiter und beruhigt, auch sehr dankbar — wofür eigentlich? Ich freue mich herzlich über diese Erfahrung. — Rohde schickte Kieler Sprotten nach Basel und einen sehr schönen Brief, er formt weiter an seinem „Roman“, der immer dicker wird wie ein Schneemann; schrieb auch einiges über Erotica und will bemerkt haben daß er „zu alt oder zu dumm oder zu verstudirt sei, als daß dergl. seine Gedanken ganz oder nur vorwiegend und namentlich auf einige Dauer fesseln könnten“. — Overbeck ist in Dresden, Romundt (dessen Geburtstag am 27 Dez. ist) in Basel, letzterer hat nun endgültig seine Universitätsdinge auf Nichts gestellt, ich will sagen, er geht Ostern ab und fort — und wohin? Wir wissens noch nicht, eine tüchtige Lehrerstellung soll herauskommen, nöthig ist es wahrhaftig, daß er die verfluchte Philosophirerei kalt stellt, er wurde recht tottig dabei und wird es täglich mehr, wie er selbst fühlt, und wir mit ihm fühlen. — Für Deinen letzten Brief und die Mittheilung des Bayreuther Briefes herzlichen Dank; wir wollen allesammt dem Himmel und der Unterwelt und wo sonst noch Götter sich aufhalten danken, daß das Nibelungenwerk gethan ist. Dem trefflichen Rau wünsche ich empfohlen zu werden und zu bleiben, das ist ein guter Mensch, und wie er seine Sachen ordentlich vorwärts führt, ist gut zu hören, auch zum Nachmachen. Krug und Pinder, beiläufig, werden mir in diesen Tagen ihre Weiberchen präsentiren, alles kommt zur Weihnacht.
Nun mein herzlieber Freund, Du weißt, daß wir über den Tag Deiner Geburt nicht klagen und fluchen; wie immer auch das Menschenloos im Ganzen sei, gewiß beklagens-, vielleicht fluchenswerth — aber gute Freunde ist eine sehr achtenswerthe Erfindung, derenthalben soll das Menschenloos gerühmt werden. Bis jetzt war es die einzige Art, wie wir mit unserm Besten etwas weiter wirkten und weiter lebten, über das Individuum hinaus; gelegentlich müssen wir auch nun unsere andre Schuldigkeit thun und für einen kräftigen geistig-leiblich ebenbürtigen Nachwuchs sorgen. Aber was auch geschehe, der Hymnus auf die Freundschaft soll immer fort erschallen; und dabei werde ich immer mit Lob und Dank an Dich gedenken, mein lieber treuer Gersdorff!
Empfiehl mich Deinen verehrten Eltern und sei selber herzlich gegrüßt von meiner Mutter und Schwester.
Und nun tapfer hinüber ins neue Jahr.
Dein
Friedrich Nietzsche.