1874, Briefe 339–411
346. An Erwin Rohde in Kiel
Basel Mitte <15.> Februar. <1874>
Einen schönen Sonntagsgruss zuvor, liebster Freund! Lebst Du im grauen Norden? Wir haben so reine warme Tage und viel Sonnenschein, ja sogar schon tieffarbige Sonnenuntergänge. Der ganze Winter hat uns einen einzigen Schneetag gegeben. Seit Neujahr habe ich auch vernünftiger und sorgfältiger gelebt, so dass ich mein Befinden heute loben kann. Nur die Augen! Ein Schreiber thut mir noth! Zwar ist mir hier, seit einem halben Jahr ein äusserst sympathischer talentvoller Schüler erwachsen, der bereits recht zu uns Allen gehört: Baumgartner mit Namen, ein Elsasser, Sohn eines Mühlhausener Fabrikanten. Der kommt jeden Mittwoch Nachmittag und bleibt den Abend; da wird diktirt, vorgelesen, Briefe geschrieben. Kurz das ist ein rechter Gewinn für mich und, wie ich verspreche, einstmals für uns Alle. Ostern will ich wieder nach Naumburg, um dort noch einmal recht systematisch der Ruhe und der Gesundheit zu leben: so werde ich’s denn auf die Dauer schon aushalten. Seit Weihnachten habe ich vielerlei durchgedacht und musste in so entfernten Gegenden schweifen, dass ich, beim Eintreffen der Correcturbogen, öfters zweifelte, wann ich dies Zeug eigentlich geschrieben habe, ja ob das Alles von mir sei. Ich locke jetzt sehr stark wider den Stachel der politischen und Bürgertugend-Pflichten und habe gelegentlich selbst über das „Nationale“ hinausgeschwiffen — Gott bessere es und mich!
Du hast, bei aller Deiner Noth, nun auch noch die Correctur-Noth gehabt, guter treuer Freund. Jedes Winkchen ist dankbarlich benutzt („ausgelitzt“) worden, und mancher Flecken ist durch Deine Hand abgestreift worden. Eine Anzahl Sonderlichkeiten gingen übrigens nicht auf mich, sondern auf die Abschrift meines schwer leserlichen Manuscriptes zurück. Leider habe ich gerade für den letzten Bogen Deine Hülfe nicht mehr benutzen können. Ich glaubte, aus mehrern Gründen, man habe vergessen, Dir den letzten Bogen zuzusenden, und die Sache hatte Eile. Glücklicher Weise habe ich den ärgsten Anstoss selbst gehoben, auch durch Streichen von c. 1 Seite Text die Schlusspartien etwas erleichtert. Eine gewisse Allgemeinheit war übrigens geboten, weil ich Rücksichten auf speciellere Ausführungen in späteren Unzeitgemässheiten zu nehmen hatte. So mag denn das Unthier laufen — wem wird’s Freude machen? Wer wird’s auch nur lesen! Ich glaube, man wird auf eine ungeheure Dummheit bei mir schliessen — und man wird wirklich Recht haben! Nur halte ich es wirklich in der Gescheidtheit nicht mehr aus und ziehe mich auf mich selbst zurück. Ich kann wirklich nicht anders; aber nicht wahr, Du wirst mich deshalb nicht gleich verachten? Denn ich denke eigentlich, dass Du mich in diesen Dingen übersiehest — und ein Recht dazu hast, liebster Freund! An meine Mit-Philologen denkend fühle ich mitunter selbst so etwas wie Scham. Doch glaube ich nicht, dass man mich leicht aus der Bahn bringt — und erst will ich mich einmal ganz aussprechen, es giebt doch keine grössere Wohlthat, die man sich erweisen kann! Wenn Du Dein Exemplar hast (hoffentlich vor 2 Wochen), bitte ich Dich noch um Eins: sage mir doch mit Härte und Kürze Fehler Manieren und Gefahren meiner Darstellung — denn darin genüge ich mir nicht und erstrebe etwas ganz Anderes. Also hilf mir mit kurzen Winken, ich werde sehr dankbar sein.
Über Bayreuth giebt es etwas Neues und wenn nur Wahres! Eine ganz ausdrückliche Notiz des Mannheimer Journ. (dem Organon Heckels) bringt aus bester Quelle (d. h. Frau W<agner>) dass die Aufführungen jetzt endgültig gesichert sind. So wäre denn das Wunder geschehen! Hoffen wir! Es war ein trostloser Zustand, seit Neujahr, vor dem ich mich endlich nur auf die wunderlichste Weise retten konnte: ich begann mit der grössten Kälte der Betrachtung zu untersuchen, weshalb das Unternehmen misslungen sei: dabei habe ich viel gelernt und glaube jetzt Wagner viel besser zu verstehen als früher. Ist das „Wunder“ wahr, so wirft es das Resultat meiner Betrachtungen nicht um. Aber glücklich wollen wir sein und ein Pest feiern, wenn es wahr ist!
Hat man Dich denn nicht nach Greifswald berufen, an des Schöllii Stelle? Aber irgend was muss doch geschehen. Wie ich höre, geht Köchly nach Berlin, als Nachfolger von Haupt — wenigstens schwätzen die Zeitungen davon. Nun vielleicht die Heidelberger Professur! Das wäre etwas, nachdem Freiburg missglückt ist! Und wie steht es mit Deinem Roman? Das weisst Du noch nicht, dass wir Heinze als Philosophen bekommen haben; Romundt ist nicht acceptirt, die Angst vor Schopenhauer trat naiv auf (nicht bei Vischer, aber er ist nicht allmächtig) Man hat mich zu einer italiänischen Revue eingeladen, die in Buchform erscheinen wird; ich habe abgesagt. ebenso J. Burckhardt. Frl. v. Meysenbug ist wieder krank und in San Remo bei Nizza angelangt, von wo sie mir rührend schrieb. Olga Monod hat einen Knaben. Gersdorff der göttliche Landedelmann ist meiner Phantasie jetzt das Vorbild: wir sollten uns alle Landgüter erwerben und dann still und tapfer bis zu Ende leben. Aber so wie so: immer vorwärts mit strengem Fechten!
Adieu, geliebter Freund!
Dein
Friedrich N.